Was macht eigentlich den Erwachsenen in der Individualpsychologie aus?

 

In der Individualpsychologie kennen wir verschiedene Entwicklungsstufen, deren eine in der nicht - archetypischen Variante der Erwachsene ist. Den Begriff nutzt auch die Transaktionsanalyse (TA), wenn sie von verschiedenen kommunikativen Haltungs- oder Entwicklungsstilen und deren Vor- und Nachteilen spricht. 

 

Der Erwachsene spielt unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten in unseren westlichen Gesellschaften eine eher stiefkindliche Rolle: Beliebt ist "jung" oder "jugendlich" und das gleich bis ins hohe Alter hinein. Das ist Zielgruppe der Marketing- und Werbeindustrie, Vorbild für die "Best Ager", die sich in bunten Klamotten wetteifernd mit ihren pubertären Sprösslingen mittels ebenfalls buntem Mountainbike die Berge hinunterstürzen und Inhalt eines Kompliments, das nie Reife, aber sehr wohl "jung bleiben" hervorhebt. 

 

Auch in der Arbeit mir Klienten merke ich immer wieder, dass der Erwachsene irgendwie keinen guten Stellenwert genießt. Erwachsen werden - auch als Ausdruck psychischer Reife - ist kein wirklich begehrtes Ziel: Das Innere Kind genießt da schon einen wesentlich höheren Stellenwert. Während das beim Jugendlichen schon wieder bricht und uns damit auch ein Erklärmuster an die Hand gibt, das aufhorchen lässt: Der eigene Innere Jugendliche wurde kaum positiv gelebt und bleibt so Sehnsuchtsobjekt das Leben hindurch. 

 

Warum soll ich also erwachsen werden? Hat das denn überhaupt Vorteile? 

 

Kurz, gewaltige. Eigentlich bin ich erst "erwachsen" in der Lage, das volle Spektrum meiner Persönlichkeit und all ihrer Möglichkeiten zu leben. Mein Handlungsspielraum ist ungleich viel größer als beim kindlichen oder jugendlichen Ich. Selbstverantwortetes Leben mit all seinen Optionen wird möglich und damit Gestaltungsmacht über mein ganzes Leben, ungeachtet noch so widriger Umstände. Ja, CHANGE wird überhaupt erst möglich, denn ich kann mich für ihn entscheiden und dann Schritt für Schritt die "richtigen" Handlungseinheiten einleiten und gehen! Ich gewinne Authentizität, Echtheit, Unverwechselbarkeit, Liebesfähigkeit (mich selbst und andere) und kann in einem spirituellen Sinn mein Leben verwirklichen. 

 

Bleibe ich in einem kindlichen oder jugendlichen Ich bleibe ich auch in der Verfügungsmasse anderer: der Eltern, Partner, Kollegen, Chefs, politischer oder sozialer Hierarchien. So kann ich keine Macht über mich und meine Möglichkeiten gewinnen und bleibe letztlich Opfer, Nicht-Gestalter, Imitierer anderer als der eigenen Persönlichkeit. 

 

 

Was für Ich-Funktionen hat denn nun so ein Erwachsener und was beinhalten die für Fähigkeiten?

 

  • Bedürfnis- und Handlungsaufschub

    Das Kind will unmittelbar Wünsche und Bedürfnisse erfüllen. Es ist meist unfähig, trotz erkennbarerer Vorteile diese aufzuschieben. Kann es das allerdings schon im Kindesalter (Frühreife) sind die Ergebnisse erstaunlich:

    Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Mischel (Professor an der Stanford University in Kalifornien) einen Test zur Bestimmung der Impulskontrollfähigkeit von Kindern aus. Bei diesem, inzwischen als Marshmallow-Test bekannten Verfahren, wurden etwa 600 Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren vor die Wahl gestellt, ein Marshmallow entweder gleich zu essen oder 15 Minuten zu warten und in dem Fall einen zweiten zu bekommen.

    Viele Jahre später befragte Mischel die Menschen, die damals an seinem Test teilgenommen hatten, zu verschiedenen Aspekten ihres Lebens. Das Ergebnis: Wer einem Marshmallow vorübergehend widerstehen konnte, hatte statistisch gesehen bessere Karrierechancen und mehr Erfolg im Leben...

    Die Wahl war einfach: Entweder ein Marshmallow sofort oder zwei Marshmallows später. Abwarten oder zugreifen? Einige Kinder sprangen sofort auf und aßen das Marshmallow, andere rutschten auf ihren Stühlen und versuchten sich zurückzuhalten, gaben aber im Durchschnitt nach ein bis eineinhalb Minuten der Versuchung nach, den Marshmallow zu essen. Ein paar der Kinder haben es allerdings geschafft, die ganze Zeit zu warten und das Marshmallow nicht zu essen. Diese Kinder nennt Mischel „High Delayer“, denn sie sind in der Lage, ihren Belohnungswunsch für lange Zeit aufzuschieben. Die Ungeduldigen bezeichnet er als „Low Delayer“. Doch was bedeutet die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub für das spätere Leben des Kindes?

    Die Macht des Belohnungsaufschubs

    Mischel führte Folgestudien mit den Versuchsteilnehmern über die Jahre durch. Das Ergebnis war erstaunlich: Zehn Jahre nach dem Experiment besaßen die „High Delayer“ im Vergleich zu den „Low Delayern“ eine höhere Konzentrationsfähigkeit, bessere Schulnoten, erzielten höhere Werte bei Intelligenztests, hatten eine höhere Stresstoleranz, konnten besser mit Frustrationen umgehen und waren selbstbewusster.

  • Frustrationstoleranz

    Eine hohe Frustrationstoleranz bedeutet, dass Hindernisse auch über einen langen Zeitraum hinweg angegangen werden. Menschen mit dieser Eigenschaft geben nicht schnell auf und sehen in Ehrenrunden die Chance zu lernen. Menschen mit einer niedrigeren Toleranz dagegen neigen dazu schnell wütend, deprimiert oder resigniert zu reagieren. Sie werfen schnell die Flinte ins Korn. So haben es Menschen mit einer geringeren Frustrationstoleranz oft schwerer, da sie sich schnell entmutigen lassen und so auf Dauer auch die Motivation verlieren, sich neuen Herausforderungen zu stellen. 

  • Abwehrmechanismen

    Abwehrmechanismen können verhindern, dass unlustvolle, schmerzhafte, inakzeptable und bedrohliche Impulse und Affekte, wie z.B. Angst, Schuldgefühle, Aggressionen oder Gefühle der Ohnmacht, der Überforderung, der Orientierungslosigkeit und Minderwertigkeit, ins Bewusstsein gelangen. Dabei können die bedrohlichen Inhalte, je nach Art der Abwehr, entweder dem Bewusstsein vollständig entzogen oder auf ein verträgliches Maß reduziert und abgemildert werden. 

    Sie haben eine pathologische Seite, helfen uns im gesunden Spektrum aber unbedingt bei der alltäglichen Ent-LASTung: 

  • Selbstentlastungsressourcen

    Kann ich aktiv Maßnahmen zur Entlastung täglicher Pflichten ergreifen? Stelle ich mich an erste Stelle oder opfere ich mich für andere auf? Sorge ich für Regenerationsphasen und für Spaß in meinem Leben? Kann ich meinen Alltag rationalisieren? 
  • Realitätsprüfung

    Die Realitätsprüfung ist ein neben der Identitätsdiffusion das andere bedeutende Kriterium in der eigenen Wahrnehmungsbeurteilung. Im erwachsenen Zustand, von dem wir hier sprechen, findet sie faktisch automatisch und einige hundert Mal am Tag statt und gleicht subjektives Erleben mit objektiven Kriterien ab. 

  • Ort/Zeit-Orientierung

    Klingt banal, ist es aber gar nicht! Ich kann die Umstände in historischen und sozialgeographischen Dimensionen erörtern und, noch viel wichtiger, fühlen: Verbunden mit der kulturellen und familiären Identität reflektiere ich die eigene Persönlichkeit und gestalte sie in Kohärenz und nicht in Ablehnung. 

  • Affekt- und Impulskontrolle

    Als erwachsene Person wissen wir normalerweise, dass wir nicht alles zu jeder Zeit haben oder tun können. Oder anders ausgedrückt: Tun wir das doch zu jeder Gelegenheit, können daraus unangenehme Konsequenzen entstehen. Wir können nicht einfach im Bett liegen bleiben, nur weil es draußen regnet oder weil das heutige Meeting wieder nervtötend zu werden verspricht. Impulskontrolle (englisch: impulse control) heißt, dass wir die Fähigkeit besitzen, Impulsivität dann, wenn sie nicht angebracht ist, zu unterdrücken beziehungsweise zu steuern. Es handelt sich um die bewusste und gewollte Kontrolle der eigenen Gefühle und Affekte. Wir planen unsere Handlungen, denn wir können die Folgen unseres Verhaltens abschätzen, sofern wir bestimmte Impulse nicht unterdrücken würden.

  • Flexibilität

    Wir können unsere Pläne / Handlungen an gegebene Umstände anpassen, ohne unter dieser Anpassung über einen längeren Zeitraum zu leiden. 

  • Intelligenz

    Hier ist die holistische Intelligenz gemeint, nicht die Beschränkung auf eine rein rationale. Unterschieden können wir: 
  1. Sprachliche Intelligenz: Sprache treffsicher einsetzen und die Fähigkeit, andere zu verstehen (Schriftsteller, Journalisten, Rechtsanwälte/Homer, William Shakespeare, Johann Wolfgang v. Goethe).
  2. Musikalische Intelligenz: Gespür für Intonation, Rhythmik und Klang (Musiker, Dirigenten, Komponisten/Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven).
  3. Logisch-mathematische Intelligenz: Mit Beweisketten umgehen und durch Abstraktion Ähnlichkeiten zwischen Dingen erkennen (Wissenschaftler, Computerfachleute, Philosophen/Aristoteles, Euklid, Blaise Pascal).
  4. Räumliche Intelligenz: Die sichtbare Welt akkurat wahrnehmen und damit im Kopf experimentieren (Architekten, Künstler, Seefahrer/Leonardo da Vinci, Michelangelo, Pablo Picasso).
  5. Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Bewegung, Beherrschung, Kontrolle und Koordination des Körpers und einzelner Körperteile (Chirurgen, Sportler, Schauspieler/Charlie Chaplin, Marlene Dietrich, Jesse Owens).
  6. Intrapersonale Intelligenz: Impulse kontrollieren, eigene Grenzen kennen und mit den eigenen Gefühlen klug umgehen (Künstler, Schauspieler, Schriftsteller/Platon, Sigmund Freud).
  7. Interpersonale Intelligenz: Andere Menschen verstehen und mit ihnen einfühlsam kommunizieren (Lehrer, Verkäufer, Politiker / Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Mutter Teresa).
  8. Naturalistische Intelligenz: Lebendiges beobachten und eine Sensibilität für Naturphänomene entwickeln (Biologen, Tierärzte, Köche/Isaac Newton, Charles Darwin, Albert Einstein).
  9. Existenzielle Intelligenz: Grundlegende Fragen der Existenz erfassen und durchdenken (Spirituelle Führer, Philosophen/Dalai Lama).
  • Objektrepräsentanzen
  1. Erleben und Ausgestalten der eigenen inneren Welt in Bezug auf andere Personen
  2. Bilder und Fantasien von Bezugspersonen
  3. Vorannahmen  
  • Bindungsfähigkeit

    Kann ich - auch intime Beziehungen - über einen längeren Zeitraum halten? 

  • Sozialverhalten

    Kann ich mich in Gruppen erfolgreich bewegen und mit einzelnen oder mehreren adäquat kommunizieren? 

  • Antizipationsfähigkeit

    „Er fühlt nicht, was heute cool ist, er fühlt, was cool sein wird“, stellte Pamela Kerwin über Steve Jobs heraus. Herausragend dabei ist, dass die Antizipationsfähigkeit nicht nur auf Fakten zielt. Vielmehr sind die Emotionen mindestens ebenbürtig. 

  • Selbstreflexion/Introspektion
  1. Selbstrepräsentanzen
  2. Persönlichkeitsreifung/ Individuation
  3. Bilder und Fantasien von sich selbst, Selbstverständnis
  4. Erleben und Ausgestalten zwischenmenschlicher Beziehungen in Bezug auf sich selbst
  • Empathie

    Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. (Wikipedia) 

Kleiner Test zum Abschluss gefällig? 

 

Mach Dir bitte ein Blatt Papier fertig und schreibe jeden Begriff darauf. Lass darunter für jeden ein bisschen Platz. Jetzt geh die einzelnen Begriffe durch und bewerte auf einer Skala von 0 (habe ich gar nicht) bis 10 (da bin ich Spitze!) jede einzelne Fähigkeit. Bitte möglichst spontan - aus "dem Bauch heraus"! 

 

Zum Schluss addiere die Zahlen zusammen und dividiere sie durch die Anzahl der bewerteten Fähigkeiten. Dann hast Du einen Durchschnittswert für Dein Erwachsensein: 

  • 0 - 3: Dein Inneres Kind ist Kapitän auf Deck.- Sonst hat da niemand was zu sagen! 
  • 4 - 6: Bist schon ganz gut jugendlich unterwegs: Wo gehts hier zur nächsten Party? 
  • 7 - 8: Glückwunsch! Dem Erwachsenleben steht nichts mehr im Weg! 
  • 9 - 10: Entweder hast Du ordentlich gemogelt oder bist auf dem direkten Weg zum Weisen! 

Wenn Du Deinen individuellen Wert steigern möchtest - einfach, um mehr Handlungsfähigkeit im Leben zu haben und damit glücklicher / erfolgreicher zu sein - lass uns reden: KONTAKT. 

 

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