Selbstwertgefühl, Selbstannahme und Selbstempathie

 

Ist denn Selbstliebe alles, was wir zur erwachsenen, funktionalen und gewünschten Persönlichkeitsentwicklung brauchen? Gar ihr Endziel? Oder geht es eigentlich um etwas wesentlich ausgewogeneres? 

 

Der Psychologe Paul Vitz von der New York University beschreibt in seinem köstlichen Buch »Der Kult ums eigene Ich« den Selbstwert-Hype der 80er Jahre als einen Tanz ums Goldene Kalb. Er zitiert eine Untersuchung, die die mathematischen Fähigkeiten von Schülern aus acht verschiedenen Ländern verglich.

 

Die amerikanischen Schüler schnitten dabei am schlechtesten, die koreanischen Schüler am besten ab. Der Clou an der Untersuchung ist allerdings: Die Schüler wurden dabei auch gebeten, ihre mathematischen Fähigkeiten selbst einzuschätzen. Bei dieser Selbstbeurteilung standen die Amerikaner an erster, die Koreaner an letzter Stelle. Die Selbsteinschätzung im mathematischen Bereich verhielt sich also genau umgekehrt zu den tatsächlichen Erfolgen in diesem Fach! Die amerikanischen Kids hatten das höchste Selbstwertgefühl, also überhaupt keine »Selbstwertproblematik«, die Koreaner hingegen angeblich schon.

 

Hier liegt das Pathologische eindeutig auf der Seite der überhöhten Selbsteinschätzung, denn dadurch wird auch ein weiteres Lernen verhindert. Die Selbsteinschätzung der koreanischen Kinder dürfte durchaus realistisch gewesen sein. Paul Vitz macht mit diesem anschaulichen Beispiel letztlich klar, dass das Selbstwertgefühl manchmal auf Selbstbetrug hinausläuft und wenig mit der wirklichen Leistungsfähigkeit zu tun hat.

 

Immer wieder begegnet man Opfern von banalpsychologischen Behandlungen, bei denen über Jahre versucht wurde, das Selbstwertgefühl immer weiter aufzublasen, bis eine schon fast krankhafte Unausstehlichkeit und Unmenschlichkeit erreicht war. Mit großer Zufriedenheit lösten diese armen Menschen jahrzehntelang gewachsene stabile Verbindungen inklusive Ehen, um sie dem Selbstwertgefühl – und der Selbstverwirklichung – zu opfern. Am Ende standen sie mit ihrem immensen Selbstwertgefühl alleine da. Hier ist Narzissmus gewissermaßen therapeutisch induziert worden.

 

Das christliche Gebot der Nächstenliebe wird gerne als Gebot zur Selbstliebe und Selbstannahme umgedeutet. Aber »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ist eine Erklärung, in welchem Maß man den anderen lieben sollte. Erst wenn die Nächstenliebe das Niveau der Eigenliebe erreicht hat, ist sachliches Denken möglich und Gerechtigkeit gewährleistet. Die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, der man gerne fehlende Selbstliebe und Selbstannahme nachsagt, leidet in Wirklichkeit meist an einer überzogenen Angst um sich selbst und die eigene Sicherheit. Solche Personen hängen mitunter stark an ihren ichhaften Bedürfnissen.

 

Auch Selbstunsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle oder Selbsthass sind Formen der Ichhaftigkeit. Viktor Frankl fasste das in ein schönes Bild: Nur das kranke Auge sieht sich selbst, das gesunde sieht seine Umgebung. Damit zog er gegen das Kultivieren der Eigenliebe und das Kreisen um den eigenen Nabel zu Felde.

 

Es ist ein Denkfehler mancher psychologischer Strömungen und Entwicklungen, die Tugend der Selbstlosigkeit und des Altruismus zu pathologisieren. Heil wird der Mensch durch Übergang von der Ichhaftigkeit in die Sachlichkeit, nicht im immer tieferen Versinken im Ego-Sumpf. Nach Viktor Frankl findet der Mensch nur dann Sinn, wenn er sich auf etwas bezieht, das nicht wieder nur er selbst ist.

 

So zeichnet auch die Individualpsychologie den Weg aus der Kindheit in die Jugend und ab dort beginnend mit dem DU (Liebhaber - Verführerin), gefolgt vom ICH (Krieger / Kriegerin), das zum WIr (König und Königin) und dann schließlich zum IHR (Weiser / Heilerin) wird. Die oberste Stufe ist also gerade gekennzeichnet durch das Verlassen des SELBST; wobei die Vorstufen unbedingt durchlaufen werden müssen, um diesen Entwicklungsschritt zu erreichen. 

 

Wir haben es in der Psychologischen Beratung oft erlebt, dass ein Klient noch wunderbar den Krieger oder die Kriegerin erreichte, aber bei dem Schritt zum König / zur Königin auswich und konstant diesen Entwicklungsschritt verweigerte. Hier hat dann auch die transformationstherapeutische Arbeit ein Ende, denn hier geht es um die bewusste Entscheidung des Klienten: Weg aus der Erwartung, endlich das perfekte Elternteil als Partner zu finden hin zur Hingabe an einen anderen unvollkommenen, aber umso lehrreicheren Menschen. 

 

Ich lade Dich also heute zu den Fragen ein:

  1. Was hindert mich an der Ganzhingabe innerhalb einer Beziehung?
  2. Welche Erwartungen an einen (potentiellen) Partner muss ich noch auflösen, um ganz in WIR gehen zu können? 
  3. Was muss ich in meiner Beziehung zu den Eltern noch heilen? 
  4. Wo muss ich ganz konkret vergeben? 
  5. Welche Glaubenssätze über Beziehungen, mich selbst und potentielle Partner habe ich (noch)? 

Geeignete Werkzeuge finden sich hier bei uns unter METHODEN

 

Foto von Kirill Balobanov auf Unsplash

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