Das ist eine sehr interessante und komplexe Frage. Die kurze Antwort lautet: Ja, aber anders.
Ein Narzisst fühlt sehr wohl etwas, jedoch sind seine Emotionen oft oberflächlicher, instabiler und vor allem auf sich selbst bezogen. Das Gefühlsleben eines Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) ist kein Vakuum, sondern eher ein Wirrwarr aus intensiven, aber dysfunktionalen Emotionen.
Hier ist eine Aufschlüsselung, was und wie ein Narzisst fühlt:
1. Er fühlt intensiv, aber selektiv
Narzisstische Menschen sind keineswegs gefühllos. Sie erleben bestimmte Emotionen sogar sehr stark:
- Wut und Kränkung (Narzisstische Wut): Das ist eine der primären Emotionen. Jede wahrgenommene Kritik, Zurückweisung oder auch nur Nichtbeachtung kann extreme Wut, Rachsucht und Groll auslösen. Ihr fragiles Selbstwertgefühl ist ständig bedroht.
- Neid: Sie neiden anderen Menschen deren Erfolge, Besitztümer oder Beziehungen und fühlen sich ungerecht behandelt, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen.
- Scham: Im Gegensatz zu Schuld (die Empathie voraussetzt: "Ich habe jemandem wehgetan") erleben sie oft tiefe Scham ("Ich bin falsch und mangelhaft"). Dieses schmerzhafte Gefühl versuchen sie um jeden Preis zu vermeiden, indem sie es nach außen projizieren (andere beschuldigen).
- Leere und Langeweile: Viele Narzissten berichten von einem chronischen Gefühl der inneren Leere. Wenn sie nicht von außen mit Bewunderung, Aufmerksamkeit oder Drama "gefüllt" werden, verspüren sie oft eine tiefe Langeweile und Sinnlosigkeit.
2. Der große Unterschied: Mangel an empathischen Gefühlen
Das, was den pathologischen Narzissmus ausmacht, ist nicht die Abwesenheit von Gefühlen, sondern das Fehlen von tiefer, prosozialer Empathie.
- Kognitive vs. emotionale Empathie: Viele Narzissten besitzen kognitive Empathie. Das bedeutet, sie können intellektuell verstehen, was ein anderer Mensch fühlt. Sie können diese Erkenntnis sogar strategisch nutzen, um Menschen zu manipulieren oder zu beeinflussen. Was fehlt, ist die emotionale Empathie: die Fähigkeit, die Gefühle anderer tatsächlich mitzufühlen, mitzufreuen oder mitzuleiden. Für sie sind die Gefühle anderer eher Werkzeuge oder Hindernisse.
- Gefühle sind transaktional: Die Gefühle eines Narzissten sind oft an Bedingungen geknüpft. "Ich fühle mich gut mit dir, solange du mich bewunderst und mir gibst, was ich brauche." Sobald diese Zufuhr versiegt, verschwindet auch die "Zuneigung".
3. Was fehlt bzw. ist stark eingeschränkt?
- Echte Reue und Schuld: Ein Narzisst kann bedauern, wenn seine Handlungen negative Konsequenzen für ihn selbst haben (z.B. wenn man ihn verlässt). Echte Reue wegen des Schmerzes, den er einem anderen zugefügt hat, ist ihm jedoch meist fremd.
- Unbedingte Liebe und Zuneigung: Seine Liebe ist oft abhängig von der Leistung und dem Nutzen des Partners. Es geht mehr darum, geliebt zu werden, als zu lieben.
- Echtes Mitgefühl: Das aufrichtige Bedauern über das Leid eines anderen, ohne einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen, ist selten.
Das Innere eines Narzissten: Ein paradoxes Gefängnis
Stellen Sie sich das Innere eines Narzissten wie eine Festung vor:
- Außen: Stark, überlegen, grandios.
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Innen: Ein verunsichertes, schamgeplagtes Kind (das "wahre Selbst"), das um jeden Preis geschützt werden muss.
Alle Gefühle, die diese Festung bedrohen könnten (Kritik, Niederlagen), werden aggressiv abgewehrt. Alle Gefühle, die die Festung stärken (Bewunderung, Kontrolle), werden gierig eingesammelt.
Zusammenfassend: Ein Narzisst fühlt sehr intensiv, aber fast ausschließlich Emotionen, die mit seinem eigenen Selbstwert, seinem Status und seinem Schutz zu tun haben (Wut, Neid, Scham). Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit, die tiefen, verbindenden und einfühlsamen Emotionen zu erleben, die zwischenmenschliche Beziehungen erst nähren und authentisch machen.
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