Das Kind eines narzisstischen Elternteils: Wie fühlt sich das an?

 

Das Aufwachsen mit einem narzisstischen Elternteil ist keine spezifische Kindheitserinnerung, sondern eine tiefgreifende und prägende Erfahrung, die das gesamte Lebensgefühl eines Menschen formt. Es fühlt sich an wie ein konstantes emotionales Erdbeben, bei dem der Boden unter den Füßen nie wirklich sicher ist.

Hier ist ein Versuch, dieses Gefühl in Worte zu fassen:

 

Das Grundgefühl: Ein Leben im Schatten

 

Stell dir vor, du bist nicht die Hauptperson in deiner eigenen Geschichte. Dein Leben dreht sich darum, die unstillbaren emotionalen Bedürfnisse eines Elternteils zu erfüllen. Deine eigene Identität, deine Gefühle und deine Leistungen existieren nur in Bezug zu ihm oder ihr.

 

Konkret fühlt es sich oft so an:

 

1. Bedingungslose Liebe? Unbekannt.

 

Deine Liebe und Wertschätzung sind nie einfach da, sondern müssen ständig verdient werden. Sie ist an Bedingungen geknüpft:

 

  • Leistung: Du wirst geliebt, wenn du gute Noten bringst, wenn du das Sportspiel gewinnst, wenn du das perfekte Musikstück vorspielst – aber nicht für dich selbst.
  • Image: Du wirst geliebt, wenn du das Familienimage aufrechterhältst ("Meine Tochter ist Ärztin!"), aber abgewertet, wenn du davon abweichst.
  • Loyalität: Du wirst "geliebt", solange du den Elternteil bedingungslos unterstützt und niemals kritisierst.

2. Ein chronisches Gefühl der Unsichtbarkeit

 

Deine Gefühle werden konsequent invalidiert, ignoriert oder übernommen.

 

  • Wenn du traurig bist, heißt es: "Stell dich nicht so an, was sind das für Probleme?"
  • Wenn du stolz auf dich bist, wird deine Leistung kleingeredet oder als die eigene ausgegeben ("Ohne meine Unterstützung hättest du das nie geschafft!").
  • Deine Erfolge werden oft als Bedrohung empfunden und sabotiert oder heruntergespielt.
  • Du lernst sehr früh, dass deine Gefühle irrelevant oder sogar lästig sind. Also hörst du auf, sie zu zeigen.

3. Ein emotionaler Jo-Jo-Effekt

 

Die Stimmung des narzisstischen Elternteils ist der Nordstern, an dem sich alles ausrichtet. Seine Launen bestimmen das Familienklima.

 

  • An einem Tag bist du der "goldene Junge/das goldene Mädchen" (wenn du ihn/sie mit einer Leistung begeisterst).
  • Am nächsten Tag wirst du ignoriert, beschimpft oder abgewertet ("Enttäuschung"), oft für eine winzige oder erfundene Verfehlung.
  • Diese willkürliche und unberechenbare Behandlung erzeugt extreme Verunsicherung und Hypervigilanz (ständige erhöhte Wachsamkeit). Du lernst, die Stimmung des Elternteils minutiös zu "scannen", um die nächste Explosion vorherzusehen.

4. Die Rolle, die du spielen musst

 

Du bist nie einfach nur das Kind. Du wirst in eine Rolle gezwungen:

 

  • Der Therapeut: Du musst die emotionalen Probleme des Elternteils anhören und lösen.
  • Der Elternteil: Du musst Verantwortung übernehmen und für den Erwachsenen sorgen.
  • Der Trophy Child: Du bist eine Trophäe, die zur Schau gestellt wird, um das Ego des Elternteils zu nähren.
  • Der Sündenbock: Alles Negative in der Familie wird auf dich projiziert. Du bist schuld an dessen schlechter Laune, Problemen etc.

5. Verwirrung und Gaslighting

 

Du zweifelst ständig an deiner eigenen Wahrnehmung und deinem Verstand.

 

  • Der Elternteil wird Geschehnisse, die gerade erst passiert sind, abstreiten oder völlig verdrehen ("Das habe ich nie gesagt!", "So war das nicht!").
  • Du wirst für deine (völlig verständlichen) Reaktionen bestraft ("Du bist so überempfindlich!", "Immer dramatisierst du alles!").
  • Das Ergebnis ist ein tiefsitzendes Gefühl, verrückt zu sein. Du traust deiner eigenen Urteilskraft nicht.

6. Ein tiefes Gefühl der Scham

 

Du schämst dich nicht für das Verhalten deines Elternteils, sondern für dich selbst.

 

  • Du fühlst dich fundamental "falsch", nicht gut genug und unwürdig.
  • Weil die Liebe nie bedingungslos war, glaubst du im Kern, dass mit dir etwas nicht stimmen muss.
  • Du schämst dich auch für die "Geheimnisse" der Familie – dass du es nach außen hin so tun musst, als ob alles perfekt und normal sei.

Die langfristigen Folgen im Erwachsenenalter

 

Diese Gefühle verschwinden nicht mit dem Auszug. Sie manifestieren sich oft als:

 

  • Schwierigkeiten in Beziehungen: Probleme mit Vertrauen, Angst vor Verlassenwerden, Menschengefälligkeit (People-Pleasing), Tendenz zu narzisstischen oder emotional nicht verfügbaren Partnern.
  • Perfektionismus und Leistungsdruck: Der innere Antreiber ("Du musst perfekt sein, um geliebt zu werden") bleibt bestehen und führt zu Burnout.
  • Geringes Selbstwertgefühl: Die innere Stimme des Elternteils wird zur eigenen, abwertenden inneren Stimme.
  • Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu äußern: Du weißt oft gar nicht, was du selbst willst, weil du es nie durftest.
  • Schuld- und Schamgefühle: Sobald du Grenzen setzt oder dich distanzierst, wirst du von massiven Schuldgefühlen überflutet.

Zusammenfassend fühlt es sich an, als ob deine Seele nie atmen durfte. Es ist ein tiefes, nagendes Gefühl der Leere, der Unsicherheit und der Frage: "Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht da bin, um meinen Elternteil zu nähren?"

Der erste und wichtigste Schritt zur Heilung ist oft die Erkenntnis, dass dieses Gefühl nicht deine Schuld ist und dass du nicht allein bist. Es war die Verantwortung deines Elternteils, für dich zu sorgen, nicht umgekehrt.

 

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