Das Zusammenspiel von kognitiver Dissonanz und narzisstischen Beziehungen ist ein zentraler Schlüssel zum Verständnis, warum diese Beziehungen für die betroffene Partnerin oder den betroffenen Partner so extrem verstörend, verwirrend und bindend sind.
1. Was ist Kognitive Dissonanz?
Kognitive Dissonanz ist ein psychologisches Phänomen, das auftritt, wenn eine Person zwei oder mehr widersprüchliche Überzeugungen, Werte, Einstellungen oder Verhaltensweisen gleichzeitig hat. Dieser Widerspruch erzeugt ein sehr unangenehmes Spannungsgefühl (die Dissonanz).
Um dieses Gefühl zu reduzieren, ändern Menschen typischerweise entweder:
- ihr Verhalten,
- eine ihrer Überzeugungen oder
- fügen eine neue, rechtfertigende Überzeugung hinzu.
Ein einfaches Beispiel: Eine Person, die raucht (Verhalten), weiß, dass Rauchen Krebs verursacht (Überzeugung). Das erzeugt Dissonanz. Zur Reduktion könnte sie sagen: "Mein Opa hat geraucht und ist 90 geworden" (neue rechtfertigende Überzeugung).
2. Kognitive Dissonanz in der narzisstischen Beziehung: Das "Boomerang"-Muster
In einer Beziehung mit einem narzisstischen Partner (ob mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder starken Zügen) wird kognitive Dissonanz nicht zufällig erzeugt – sie ist oft systemisch. Das klassische Muster besteht aus zwei Phasen:
- Idealisierung (Love-Bombing): Der narzisstische Partner überschüttet den anderen mit Aufmerksamkeit, Komplimenten, Geschenken und der Versicherung, dass sie "Seelenverwandte" sind. Die Botschaft ist: "Du bist perfekt. Ich bin perfekt. Wir sind das perfekte Paar."
- Abwertung und Entwertung: Plötzlich und oft ohne nachvollziehbaren Grund kippt die Stimmung. Der Partner wird kritisiert, abgewertet, ignoriert oder emotional missbraucht. Die Botschaft ist jetzt: "Du bist wertlos. Du bist schuld an allem."
Genau zwischen diesen beiden Polen entsteht die immense kognitive Dissonanz.
3. Wie zeigt sich die Dissonanz konkret? (Innere Konflikte)
Die betroffene Person erlebt folgende widersprüchliche Gedanken und Gefühle:
- "Er/Sie ist so liebevoll und fürsorglich" vs. "Er/Sie ist grausam und verletzend."
- "Ich wurde noch nie so geliebt" vs. "Ich wurde noch nie so schlecht behandelt."
- "Diese Beziehung ist ein Märchen" vs. "Diese Beziehung ist ein Albtraum."
- "Mein Partner ist mein größter Fan" vs. "Mein Partner ist mein schärfster Kritiker."
Dieser innere Konflikt ist so quälend, dass das Gehirn nach Wegen sucht, die Spannung zu reduzieren – und greift oft zu irrationalen Erklärungen.
4. Wie wird die Dissonanz vom Betroffenen aufgelöst? (Mechanismen)
Um die beiden Realitäten (den liebevollen und den missbräuchlichen Partner) in Einklang zu bringen, beginnt der betroffene Partner, die Schuld bei sich zu suchen:
- Selbstzweifel und Schuldzuweisung: "Es muss an mir liegen. Wenn ich mich nur mehr anstrenge, perfekter bin, dann wird die liebevolle Seite wieder kommen." Die Alternative – dass der Partner einfach missbräuchlich ist – wäre zu schmerzhaft, weil sie die "perfekte" Liebe infrage stellt.
- Rationalisierung und Verharmlosung: "Er hat nur so einen schlechten Tag bei der Arbeit gehabt." / "Sie meint das nicht so. Das war nur ein Ausrutscher." / "Jede Beziehung hat doch ihre Höhen und Tiefen."
- Verleugnung: Die schlimmsten Vorfälle werden verdrängt oder umgedeutet. Die Erinnerung an das Love-Bombing wird aufrechterhalten, während die Entwertung "wegerklärt" wird.
- Hypervigilanz und Anpassung: Der Partner passt sein gesamtes Verhalten an, um Konflikte und damit die schmerzhafte Dissonanz zu vermeiden ("Walking on Eggshells"). Dies verstärkt die Abhängigkeit.
5. Die Rolle des narzisstischen Partners
Der narzisstische Partner verstärkt diese Dissonanz oft (meist unbewusst) aktiv:
- Gaslighting: Er bestreitet, dass bestimmte Vorfälle überhaupt passiert sind ("Das habe ich nie gesagt") oder dreht die Tatsachen um ("Du bist einfach zu empfindlich, du bildest dir das ein"). Dies zerstört das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und verstärkt die Verwirrung.
- Intermittierende Verstärkung: Die unberechenbare Abwechslung von Belohnung (Idealisierung) und Bestrafung (Abwertung) erzeugt eine suchtähnliche Bindung. Die Hoffnung auf die "Belohnung" hält den Partner in der Beziehung gefangen.
- Projektion: Der Narzisst projiziert seine eigenen negativen Eigenschaften auf den Partner ("Du bist eigentlich der Narzisst!"). Dies wirft den Partner völlig aus der Bahn und zwingt ihn, sich mit einem völlig falschen und abwertenden Bild auseinanderzusetzen.
6. Die Folgen und der Ausstieg
Die chronische kognitive Dissonanz hat verheerende Auswirkungen:
- Erschöpfung, Depression und Angstzustände
- Verlust des Selbstwertgefühls und der Identität
- Isolierung von Freunden und Familie
- Ein Gefühl, verrückt zu werden (aufgrund des Gaslightings)
Der Ausstieg aus der Beziehung ist auch ein Ausstieg aus der kognitiven Dissonanz. Das ist ein schmerzhafter Prozess, der oft folgende Schritte umfasst:
- Die Realität anerkennen: Die schmerzhafte Wahrheit akzeptieren, dass der Partner nicht der Mensch ist, für den man ihn gehalten hat, und dass die "perfekte Liebe" eine Illusion war.
- Die Schuld neu zuweisen: Verstehen, dass die Misshandlung nicht die eigene Schuld war, sondern aus dem Narzissmus des Partners stammt.
- Die eigene Wahrnehmung zurückgewinnen: Tagebücher, Gespräche mit Therapeuten oder Unterstützungsgruppen helfen, das Gaslighting rückgängig zu machen und dem eigenen Erleben wieder zu vertrauen.
Zusammenfassend: Kognitive Dissonanz ist der psychologische Klebstoff, der Menschen in narzisstischen missbräuchlichen Beziehungen hält. Der quälende Widerspruch zwischen der erinnerten idealisierten Liebe und der aktuellen grausamen Behandlung führt dazu, dass das Opfer die Realität verbiegt, um den Schmerz zu reduzieren – und landet dabei in einer Falle der Selbstbeschuldigung und Abhängigkeit. Das Verständnis dieses Mechanismus ist der erste Schritt zur Befreiung.
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