Tiefenpsychologische Hintergründe des Catcallings

 

1. Abwehr des Kastrationskomplexes und Angst vor der Weiblichkeit

 

Aus einer psychoanalytischen Perspektive (Freud) ist die weibliche Sexualität für das unbewusste männliche Ich oft bedrohlich und rätselhaft. Sie wird als "fremd" und damit beängstigend erlebt.

 

  • Abwehr durch Herabsetzung: Der Catcall ist ein psychischer Abwehrmechanismus. Die bedrohliche, unbekannte Weiblichkeit wird durch die vulgäre Zuruf aktivisch erniedrigt, beschmutzt und damit kontrollierbar gemacht. Was ich beschimpfe und zu einem bloßen Objekt reduzieren kann, muss ich nicht fürchten.
  • Symbolische Entmachtung: Der Ruf ist ein symbolischer Akt, die Frau ihrer vermeintlichen Macht (über den Mann durch seine Begierde) zu berauben. Indem er sie öffentlich demütigt, stellt er die Machtverhältnisse in seiner Psyche wieder her – von der bedrohlichen Frau hin zum kontrollierenden Mann.

2. Projektion des eigenen Schattens (C.G. Jung)

 

Jeder Mensch trägt einen "Schatten" in sich – alle verdrängten, als negativ empfundenen Persönlichkeitsanteile (z.B. eigene Verletzlichkeit, Scham, Triebhaftigkeit).

 

  • Externalisierung der eigenen Animalität: Der Catcaller projiziert seinen eigenen unkontrollierten, triebhaften Schatten auf die Frau. Sie wird zur Projektionsfläche für seine unerlaubten sexuellen Impulse. Indem er sie anmacht, macht er sie zur "Ursache" seiner eigenen inneren Spannung und macht sie damit verantwortlich.
  • "Hure/Heilige"-Spaltung (Archetypen): In der archetypischen Wahrnehmung des Catcallers findet eine Spaltung statt. Die Frau wird nicht als ganzheitliches Wesen gesehen, sondern auf den Archetyp der "Hure" reduziert. Dies erlaubt es ihm, seine aggressiven und sexuellen Impulse an ihr auszuleben, ohne Schuldgefühle gegenüber dem Archetyp der "Heiligen" (Mutter, Ehefrau) zu empfinden.

3. Narzisstische Kränkung und grandioses Selbst

 

Bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur ist das Selbst extrem fragil.

 

  • Narzisstische Zufuhr: Der Catcall ist ein primitiver Versuch, "narzisstische Zufuhr" zu erhaschen. Die (erzwungene) Aufmerksamkeit der Frau dient als Beweis für die eigene Existenz und Wichtigkeit. Sie ist eine Art Spiegel, der das grandiosose Selbst des Catcallers für einen Moment bestätigen soll.
  • Rache für Kränkung: Jede Frau, die ihn ignoriert oder nicht beachtet, stellt eine massive narzisstische Kränkung dar. Seine bloße Existenz wird nicht anerkannt. Der Catcall ist dann eine aggressive Rache für diese Kränkung. Die Botschaft ist: "Du wagst es, mich zu übersehen? Dann zwinge ich dich jetzt, mich zur Kenntnis zu nehmen – und zwar auf meine Weise!"

4. Perversion des Bindungsstrebens (Object Relations Theory)

 

Jeder Mensch hat ein grundlegendes Bedürfnis nach Bindung.

 

  • Pathologische Kontaktaufnahme: Für einen Menschen, der keine reifen Strategien der Kontaktaufnahme gelernt hat (durch Respekt, Empathie, Sprache), wird die Aggression zur primitiven Form der Beziehung. Ein feindseliger Kontakt ist für ihn besser als gar kein Kontakt. Der Catcall ist eine perverse Art zu sagen: "Ich bin da. Nimm mich wahr. Stehe in Beziehung zu mir."
  • Versuch, ein inneres Vakuum zu füllen: Das impulsive Handlung dient dazu, ein inneres Leeregefühl, Langeweile oder eine unerträgliche innere Spannung kurzfristig zu betäuben. Der Adrenalinschub der Tat und die (negative) Reaktion füllen das Vakuum für einen Moment.

Zusammenfassung der tiefenpsychologischen Triebkräfte:

Tiefenpsychologisches Konzept

Wirkmechanismus beim Catcalling

Abwehr der Kastrationsangst

Die bedrohliche Weiblichkeit wird durch Erniedrigung kontrollierbar und unschädlich gemacht.

Projektion des Schattens

Die Frau wird zur Projektionsfläche der eigenen, verpönten Triebe und macht sie damit "schuld".

Narzisstische Kränkung

Die Tat stellt das grandiosose Selbst wieder her und rächt die Kränkung des Übersehenwerdens.

Perversion der Bindung

Aggression wird als Ersatz für echte, reife Beziehungsaufnahme missbraucht.

 

 

Letztendlich ist der Catcall aus dieser Perspektive ein primitiver Abwehrmechanismus eines psychisch unreifen oder gestörten Ichs, das mit eigenen Ängsten, Trieben und einem fragilen Selbstwertgefühl nicht konstruktiv umzugehen weiß. Es ist die Pathologie eines schwachen, nicht eines starken Ichs.

 

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