Das Gefühl, dass man krank werden muss, um Liebe oder Aufmerksamkeit zu bekommen, ist komplex und oft in tiefen emotionalen Mustern verwurzelt. Um es zu problematisieren, lohnt es sich, mehrere Ebenen zu betrachten:
1. Gelernte Verhaltensmuster (Konditionierung)
- Kindheitserfahrungen: Wenn Eltern oder Bezugspersonen nur dann Zuwendung zeigten, wenn das Kind krank, verletzt oder schwach war, kann sich das als Überzeugung festsetzen: "Ich werde nur geliebt, wenn ich leide."
- Verstärkungseffekt: Wenn Fürsorge ausschließlich in Krisensituationen erfolgt, lernt das Unterbewusstsein: Gesund und stark sein = unsichtbar sein.
2. Gesellschaftliche und kulturelle Prägungen
- Performance-Kultur: In einer Gesellschaft, die Stärke und Unabhängigkeit idealisiert, wird Schwäche oft als einziger "legitimer" Grund für Hilfsbedürftigkeit akzeptiert.
- Toxische Positivität: Sätze wie "Reiß dich zusammen!" oder "Anderen geht es schlimmer" können dazu führen, dass Menschen sich nur dann erlauben, Bedürfnisse zu äußern, wenn sie objektiv legitimiert sind (z. B. durch Krankheit).
3. Psychodynamische Faktoren
- Sekundärer Krankheitsgewinn: Ein unbewusster Mechanismus, bei dem Krankheit (reell oder performativ) genutzt wird, um Zuwendung zu erhalten, die sonst verwehrt bleibt.
- Selbstwertproblematik: Wenn jemand glaubt, "Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden, wie ich bin", kann Krankheit eine Art "Berechtigungsschein" für Liebe werden.
4. Beziehungsdynamiken
- Ungleichgewicht in Fürsorge: In manchen Beziehungen (Partnerschaften, Familien) gibt es eine einseitige Dynamik: Eine Person wird nur als Gebende wahrgenommen – und erhält selbst erst Aufmerksamkeit, wenn sie "zusammenbricht".
- Emotionale Vernachlässigung: Wenn Menschen chronisch das Gefühl haben, übersehen zu werden, kann Krankheit ein (unbewusster) Hilfeschrei werden.
Problematisierung: Warum ist das ein Teufelskreis?
- Selbstaufopferung: Die Botschaft "Ich muss leiden, um gesehen zu werden" führt dazu, dass Gesundheit und Glück unbewusst als Bedrohung wahrgenommen werden – denn dann "fällt der Grund weg, geliebt zu werden".
- Beziehungsstress: Auf Dauer führt dieses Muster zu Erschöpfung und Frust bei allen Beteiligten. Die Fürsorge wird zur Pflicht statt zu freiwilliger Zuneigung.
- Körperliche Folgen: Psychosomatische Effekte sind real – unterdrückte emotionale Bedürfnisse können sich buchstäblich in Krankheit manifestieren.
Was hilft, das Muster zu durchbrechen?
- Reflexion: Erkennen, woher das Gefühl kommt (z. B. durch Journaling oder Coaching).
- Neue Narrative schaffen: Aktives Üben von Sätzen wie "Ich verdiene Liebe, auch wenn es mir gut geht".
- Grenzen setzen: In Beziehungen klar kommunizieren: "Ich brauche dich auch, wenn ich nicht krank bin."
- Selbstwert aufbauen: Durch kleine Akte der Selbstfürsorge trainieren, dass man ohne Leistung oder Leid wertvoll ist.
Letztlich geht es darum, das grundlegende Bedürfnis nach Liebe und Sicherheit nicht mehr an Bedingungen zu knüpfen. Das ist schwer – aber möglich.
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