Wer ist der "Innere Kritiker" und was will der?

 

Wir lernen schon als kleine Kinder, dass es falsch ist, zu anderen gemein zu sein und zum Beispiel die Schwester an den Haaren zu ziehen. Warum also glauben wir, dass es in Ordnung ist, uns permanent selbst die schlimmsten Beschimpfungen an den Kopf zu werfen? Wenn der innere Kritiker in uns die Stimme erhebt, dann auf eine Weise, die uns Freunden oder sogar Fremden gegenüber niemals in den Sinn kommen würde. Und das passiert beileibe nicht nur Menschen, die erfolglos durchs Leben gehen, ganz im Gegenteil. Auch wer beruflich hocherfolgreich ist, kann sich selbst unaufhörlich kritisieren und glauben, dass er oder sie eigentlich nichts kann. Und dass jeden Moment jemand aus dem persönlichen Umfeld darauf kommen wird.

 

Es gibt zahlreiche Gründe, warum im Laufe unseres Lebens dieser „innere Kritiker“ in uns entsteht. Meistens geht es auf Erfahrungen in frühester Kindheit oder Jugend zurück. Vielleicht gab es da jemanden, zu dem wir aufgeblickt haben. Dieser Mensch hat uns in einem Moment größter Verletzlichkeit mit Worten weiteren Schaden zugefügt. Eventuell haben wir etwas kaputt gemacht, wir haben in einer Prüfung versagt oder wir haben ein Tennis-Turnier vergeigt. Anstatt uns zu trösten und zu helfen, das angeknackste Selbstbewusstsein wieder aufzurichten, hat dieser Mensch uns vielleicht ausgelacht und dann in herablassender oder verletzender Weise wenig hilfreiche Dinge an den Kopf geworfen, wie zum Beispiel: „So wird aus dir nie etwas werden“, oder: „Das war ja klar, dass das wieder dir passieren musste.“

 

Kommt dir das bekannt vor? Oder erinnert dich die innere Stimme, die dich so unablässig kritisiert, gar an jemanden aus deiner Vergangenheit?

 

Aber auch die Natur spielt uns hier - wie bereits mehrfach erwähnt - einen Streich. Wir haben uns als Spezies über Millionen von Jahren durch sehr gefährliche Zeiten hindurch entwickelt. Sicherheit gab es nicht. Weder die Sicherheit, genug essen zu finden, noch die Sicherheit, einen Schlafplatz für die Nacht zu finden, in dem man nicht erfriert oder selbst zum potenziellen Frühstück für große Raubtiere wird. Diese Erfahrungen haben uns darauf konditioniert, unbewusst negativen oder bedrohlichen Situationen mehr Beachtung zu schenken.

 

In verschiedenen Studien wurde nachgewiesen, dass wir in einer großen Menschenmenge sehr viel schneller Menschen mit ängstlichem oder ärgerlichem Gesichtsausdruck erkennen, als jene, die glücklich und zufrieden schauen. Und als ob das nicht schon genug wäre: Wir beschäftigen uns auch länger damit. Denn für unser derart konditioniertes Unterbewusstsein geht es in erster Linie darum, Gefahren entweder zu vermeiden oder ihnen mit aller Kraft, die wir haben, begegnen zu können. So fand der Psychologe John Gottmann heraus, dass man für jede negative Interaktion in einer Beziehung vier positive braucht, damit sie glücklich und gesund bleibt. Ein böser Krach hallt viel länger in uns nach, als ein schöner Abend im Kino oder das tolle Essen mit Freunden. Wenn wir jedoch über die Woche verteilt 4-mal eine schöne Zeit mit unserem Partner hatten, fällt der Disput am Wochenende gar nicht so sehr ins Gewicht. Wir grübeln weniger darüber nach.

 

Im Berufsleben gilt das genauso. Das oben erwähnte Prinzip liegt zum Beispiel Algorithmen zugrunde, die der Auswertung von Mitarbeiterbefragungen hinterlegt werden. Wenn in einem Team aus 10 Mitarbeitern 7 sagen, dass sie mit den Arbeitsbedingungen zufrieden sind, ist das trotz des augenscheinlich positiven Ausgangs der Befragung ein kritisches Ergebnis. Ein Anteil von 30 Prozent auf der „kritischen“ Seite reicht, um die „positive Seite“ umzustimmen.

 

Wenn du nun das Gefühl hast, dass dir dieses Thema in letzter Zeit häufiger unterkommt und damit offenbar mehr ein Problem unserer Zeit ist, hast du nicht ganz unrecht. Früher hatten die Menschen vor allem mit ihrem eigenen Umfeld zu tun und waren Problemen und Umständen ausgesetzt, über die sie ein gewisses Maß an Kontrolle hatten. Und die sie auch von der tatsächlichen Gefahr her einschätzen konnten. Heute werden wir über Social Media, Nachrichten, unseren Mobiltelefonen - einfach der gesamten vernetzten Welt - mit schlechten Nachrichten zugepflastert. Dadurch bekommt unser Unterbewusstsein das Gefühl, permanent von außerordentlich großer Gefahr umgeben zu sein. Die Bilder vom Erdbeben in Japan und der Überschwemmung in Bangladesch, die Massenschießerei in Florida: All das wirkt auf unser Unterbewusstsein. Es kann auch nicht unterscheiden, ob diese Gefahr tatsächlich vor unserer Haustür droht oder so weit weg ist, dass wir uns eigentlich gar nicht damit beschäftigen müssten. Schlimmer noch: Die Bilder suggerieren, dass nicht nur die Welt gefährlich, sondern die Menschheit um uns herum durch und durch böse ist.

 

Und noch ein weiterer Faktor spielt hier mit hinein. Wir werden ja nicht nur permanent mit schlechten Nachrichten bombardiert, sondern uns wird gleichzeitig ein völlig unerreichbarer Standard von „das ist richtig und erstrebenswert“ suggeriert. Es ist fast immer ein neues Auto der Luxusklasse, mit dem die glückliche Familie in der Werbung zum Picknick mit Freunden fährt. Und selbige Familie ist immer jung, gesund, gertenschlank und perfekt und sauber gekleidet. Wir bekommen unbewusst gesagt, dass Glück in den Dingen liegt, die es da zu kaufen gibt. Also kommt zum Druck, im Job nur keinen Fehler zu machen, auch noch der Druck, immer mehr Geld verdienen zu müssen, damit man überhaupt eine Chance hat, genug „Glück“ kaufen zu können.

 

Wie komme ich da aber raus und beende das negative Gedankenkarussell? 

 

1. Negative Gedanken durch Aufschreiben loslassen

 

Das ist eine der mächtigsten Übungen überhaupt und dabei so einfach umzusetzen. Und fast jeder, den ich kenne, hat damit dieselben Erfahrung gemacht: Ganz egal, wie angespannt du beim Gedanken an eine bestimmte Situation bist, schon nach wenigen Augenblicken wirst du dich mit dieser Übung besser fühlen.

 

Ursprünglich ist es eine Kreativitäts-Methode, die vor allem Schriftsteller verwenden. Und das ergibt auch Sinn. Wenn wir gestresst, ängstlich, angespannt oder schlichtweg „down“ sind, sorgen die Stresshormone in unserem System dafür, dass der Teil des Gehirns, der sich mit Überlebensinstinkten auskennt, die Oberhand bekommt. Wie bereits mehrfach erklärt, sind das Flucht- oder Angriffsreflexe, oder, wenn beides nicht möglich oder erfolgversprechend erscheint, der Totstell-Reflex. Vielleicht hast du das schon einmal in der Natur beobachtet, Eidechsen machen das zum Beispiel. Wenn du eine Eidechse an einem kühlen Tag aufspürst, ist sie zu träge, um schnell weglaufen zu können. Du bist aber auch definitiv zu groß, als dass sie dich angreifen und in die Flucht schlagen könnte. Also bleibt sie stocksteif liegen und hofft, dass du sie für tot hältst. In der Welt der wilden Tiere nämlich ist ein totes Beutetier nicht unbedingt ein gutes Beutetier - die wenigsten Raubtiere sind Aasfresser. Tot bedeutet in dieser Welt: uninteressant. Wenn du die Eidechse nun genau anschaust (bitte nicht anfassen, das stresst das arme Tierchen noch zusätzlich), wird sie tatsächlich wie tot wirken. Wenn du dich nun aber ein paar Meter wegbewegst und ganz still sitzen bleibst, wird sie nach wenigen Augenblicken wie durch ein Wunder wieder zum Leben erwachen und davonflitzen.

 

Was für Eidechsen im Zweifelsfall lebensrettend sein kann (es sei denn, der überraschende Eindringling ist ein großer Traktor), hilft uns Menschen in Zeiten von mentalem Stress überhaupt nicht. Nicht nur, dass Totstellen uns weder bei Prüfungen noch bei Aufgaben in der Firma hilft (den Chef beißen oder so schnell wie möglich nach Hause rennen natürlich auch nicht), ist in solchen Situationen leider der Teil unseres Gehirns blockiert, der uns hilft, rationale und kreative Lösungen für unser Problem zu finden. Durch die Stresshormone ist es quasi auf Stand-by-Betrieb geschaltet. Und hier kommt nun diese Übung ins Spiel. Du führst damit deine Instinkte quasi in die Irre. Indem du alles aufschreibst, was dir gerade zu deinem gefühlten Problem in den Sinn kommt, suggerierst du deinem Stresszentrum, dass du dich um das Problem kümmerst. Das wirkt so beruhigend, dass die Menge an ausgeschütteten Stresshormonen sinkt. Gleichzeitig sorgt die Schreibtätigkeit dafür, dass der für komplexe Aufgaben zuständige Teil des Gehirns wieder eingeschaltet werden muss. Und der liegt nicht im Reptiliengehirn.

 

Du wirst schon mit den ersten Sätzen merken, wie die Anspannung sinkt. Du wirst dich tatsächlich deutlich besser fühlen. Obwohl das Problem, das dich so in Angst versetzt hat, weiterhin existiert. Aber es geht noch weiter. Je länger du schreibst, desto mehr wirst du merken, wie du auf einmal viel klarer siehst. Dir werden tatsächlich Ideen kommen, was du zur Lösung tun könntest. Das leidige Gedankenkarussell fährt immer langsamer und auf einmal kommen wieder klare, kreative, lösungsorientierte Gedanken „zu Wort“.

 

Und so geht die Übung:

 

Nimm ein Blatt Papier und einen Stift. Ja, genau, ganz altmodisch Papier und Stift. Die Wirksamkeit hat auch etwas mit der tatsächlichen Bewegung zu tun (wie bereits erwähnt). Und dann fang einfach an zu schreiben. Alles, was dich gerade bedrückt. Ungefiltert und ohne Rücksicht auf Rechtschreibung, Schreibstil oder Schönschrift. Greif die Gedanken auf und lasse sie aufs Papier fließen, so schnell wie möglich, aber auch ohne dich zusätzlich anzutreiben. Es gibt hier keinen Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Du wirst sehen, schon nach wenigen Minuten wirst du dich deutlich entspannter fühlen und das Gedankenkarussell in deinem Kopf kommt zur Ruhe. Leg dann das Blatt zur Seite und hole es erst nach 3 bis 4 Tagen wieder heraus. Lies dir durch, was du aufgeschrieben hast. Du wirst sehen, dass das, was dich da so massiv beschäftigt hat, auf einmal gar nicht mehr so schlimm und bedrohlich wirkt - im Gegenteil. Dir werden vermutlich spontan Lösungsansätze für einzelne Probleme einfallen. Und du wirst bemerken, dass dich die meisten dieser Gedanken danach auch wirklich in Ruhe lassen oder zumindest nicht mehr so in Stress versetzen.

 

2. Gefühlskompass

 

Immer wenn von einem Kompass die Rede ist, geht es um Orientierung. Das ist auch hier der Fall. Der Gefühlskompass hilft uns, die hinter schlechten Gefühlen steckenden Gedanken einfacher zu identifizieren - und umgekehrt. An manchen Tagen ist unser Kopfkino so aktiv, dass es sehr schwer ist, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. In so einer Situation schafft man es fast gar nicht, sich zu beruhigen oder darüber klar zu werden, was denn der wirkliche Auslöser für die innere Unruhe ist.

 

In so einer Situation kann ein Gefühlskompass sehr hilfreich sein. Hier gibt es eine Reihe von Varianten, die auch alle ähnlich aufgebaut sind. Unter METHODEN habe ich dir eine Sammlung dieser Varianten aufgelistet. Schaue sie dir in Ruhe an und suche dir deinen Favoriten heraus.

 

Im Prinzip basieren die Ansätze aller Kompass-Varianten auf zwei Annahmen: 1.) Negative Gedanken lösen Emotionen aus, die zum Teil sehr starke körperliche Symptome zur Folge haben können. 2.) Negative Gefühle sind nicht dazu da, um uns zu quälen. Im Laufe der Evolution hat sich dieser „Mechanismus“ bewährt, um uns als Individuum vor gefährlichen Situationen zu bewahren und damit unseren Beitrag zum Erhalt der Spezies Mensch zu leisten. Sie haben also einen positiven Sinn und Zweck, wollen uns dazu bringen, aktiv zu werden und sie lassen sich auf einige wenige „Grundgefühle“ reduzieren:

  • Ärger/Wut
  • Angst/Furcht
  • Scham/Schuld
  • Trauer

Manche Modelle listen hier noch weitere grundlegende Emotionen auf. Wenn wir Angst oder Furcht verspüren, erkennt unser Unterbewusstsein eine Gefahr für uns und möchte, dass wir dieser entkommen. Weglaufen, und wenn das nicht geht, Totstellen. Das Gefühl der Angst ist fast immer „lähmend“ oder höchstens mit dem Impuls verbunden, so schnell und weit wie möglich wegzulaufen. Ähnlich ist das bei Wut und Ärger. Dahinter steckt dann keine unmittelbare Gefahr für unser Leben. Hier hat unser Unterbewusstsein einen Angriff auf unser emotionales Wohlbefinden wahrgenommen. Unsere inneren Grenzen wurden verletzt. Jemand hat etwas gesagt oder getan, dass uns in einem sozialen Kontext angreift und unsere Stellung innerhalb unseres „Rudels“ infrage stellt. Wir sind „frustriert“, fühlen den Ärger in uns aufsteigen, uns wird heiß. Wir greifen an und verteidigen so unsere Stellung innerhalb der Gruppe.

 

Heute spielt das keine wirklich wichtige Rolle mehr, denn schon lange ist es nicht mehr nur der Stärkere, der überlebt. Aber unsere Instinkte laufen noch immer auf dem Betriebssystem, das wir seit der Steinzeit mit uns herumschleppen. Glücklicherweise gibt es als Regulativ die Scham und das Gefühl der Schuld. Wenn wir im ersten Impuls der Frustbekämpfung übers Ziel hinausgeschossen sind und unsere sozialen Bindungen in Gefahr gebracht haben, meldet sich das „schlechte Gewissen“. Es treibt uns dazu, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

 

Trauer hilft uns dabei, schlimme Erfahrungen zu verarbeiten. Aber dann auch loslassen zu können. Für uns Menschen war es immer schon wichtig, uns nach dem Verlust eines Partners einem neuen Partner zuwenden zu können. Um den Fortbestand der Spezies zu garantieren. Auch, wenn das heute eher kein Problem mehr ist, angesichts der vielen Milliarden Menschen auf dem Planeten. Die Trauer dient aber auch der „Emotionshygiene“. Wenn wir Trauer zulassen und die Auslöser dahinter wirklich verarbeiten, geht es uns schneller wieder gut.

 

Die verschiedenen Modelle des Gefühlskompass helfen uns dabei, genau diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, in dem sie uns mit folgenden Fragen leiten:

  • Was genau spüre ich im Moment? (Manche Kompassmodelle fragen auch: „Wo im Körper spüre ich gerade etwas?“)
  • Was steckt dahinter?
  • Was war der mögliche Auslöser?
  • Welche Gedanken gehen mir dabei konkret durch den Kopf?

3. Gefühls-ABC notieren

 

Im Laufe unseres Lebens lernt unser Gehirn, bestimmte Erlebnisse mit bestimmten Gefühlen in Verbindung zu bringen. Es spult das Programm dann zunehmend automatisch und für uns unbewusst ab. Bei einfachen Routinen wie dem Einschalten der Kaffeemaschine am Morgen ist das ja hilfreich. Nicht gut ist es jedoch, wenn wir als Kinder einmal einen Busunfall beobachtet haben und danach immer mit Panik auf rote Gelenkbusse reagieren.

 

Während dieses Beispiel einfach nachzuvollziehen ist und damit auch konfrontiert werden kann, laufen in unserem Gehirn täglich Tausende solcher Auslöser ab, die wir gar nicht als solche wahrnehmen. Erst, wenn wir uns plötzlich wieder in einem endlosen Gedankenkarussell wiederfinden und es nicht stoppen können, sollten wir genauer hinsehen. Auch hier ist es hilfreich, das schriftlich zu machen. Zum einen wirst du schon gemerkt haben, dass es dir schwerfällt, dich zu konzentrieren, wenn das Gedankenkarussell kreist. Zum anderen aktiviert, wie bereits erwähnt, der Akt des Schreibens einen Teil des Gehirns, der uns hilft, wieder logisch und praktisch zu denken - ganz grob formuliert.

 

Hier möchte ich jetzt darlegen, warum es nicht nur ein Problem, sondern auch Teil der Lösung sein kann. Wenn wir auf bestimmte Situationen mit sehr negativen Gedanken reagieren, ist wieder so ein unbewusstes Muster am Werk. Dabei glaubt unser Gehirn, eine bestimmte Situation wiederzukennen und verpasst ihr die Bewertung „Gefahr“. Das Notfall-Zentrum für Flucht, Angriff oder Totstellen wird aktiviert. Aber auch wenn sich das „richtig“ anfühlt und wir in dem Moment glauben, dass die Situation tatsächlich und wahrhaftig so ist, wie wir uns fühlen, muss das nicht so sein.

 

Diese Übung ist auf eine langfristige Verbesserung angelegt und benötigt etwas Zeit, sowie Hingabe. Wenn du bereit bist, das zu leisten, wirst du allerdings mit einer deutlichen Verbesserung deiner negativen Denkmuster belohnt.

 

Wenn du also wieder einmal nach einem unangenehmen Erlebnis in einer Endlosschleife negativer Gedanken gefangen bist, nimm einen Stift und ein Blatt Papier und fang an, aufzuschreiben:

 

A. Die tatsächliche Situation: Stell dir vor, du wärst eine Kamera. Du kannst nur aufzeichnen, was eine Kamera auch sehen würde. Beschreib die Situation, wie sie sich den Fakten nach darstellt.

 

Also zum Beispiel:

  • Wer war anwesend?
  • Wie war das Wetter?
  • Wann hat die Situation sich abgespielt?
  • Wie lange hat es gedauert?
  • Warum warst du dort?
  • Und so weiter…

Es sollten nur neutrale Antworten kommen wie: „Herr und Frau XXX“ oder „Die Mitarbeiter der Abteilung XYZ außer Herrn ZZZ“ „Es hat geregnet, als wir anfingen.“ „Beginn war um 10 Uhr morgens, es ging bis kurz nach 12.“ „Es war eine Geburtstagsfeier, ein Elternabend, eine Sitzung der Abteilungsleiter, ...“ „Ich war mit meiner Tochter dort, ich war eingeladen, ich sollte einen Vortrag halten, ...“

 

B. Deine Gedanken dazu: Wenn das „Kamerabild“ so komplett beschrieben ist, dass jemand, der nicht da war, sich die Situation auch vorstellen könnte, dann schreibe deine Bewertung auf. Was hast du gedacht? War das Ereignis positiv oder negativ? Traurig, bedrohlich, frustrierend - oder am Ende gar neutral?

 

Es ist hier nicht nötig, nach Gründen für die Bewertung zu suchen. Schreibe einfach alle Gedanken auf, die dir dazu (noch) einfallen.

 

C. Wie hast du dich gefühlt und verhalten? Versuche danach, dich an die Situation zu erinnern. Was hast du gefühlt? Und, ganz wichtig - wo hast du es gefühlt? Warst du zum Beispiel angespannt? Hattest du einen Knoten im Bauch? Einen Kloß im Hals? Einen trockenen Mund? Hattest du feuchte Hände? Beschreibe deine Gefühle, so gut es geht, in jedem Detail. Und dann schreibe auf, was du in der Situation genau getan hast. Wie hast du dich verhalten? Hast du dich in der Menge versteckt? Hast du mit jemandem gestritten? Oder vor Frust das Buffet leer gegessen?

 

Wenn du mit den Punkten unter ABC fertig bist, kommt ein ganz wichtiger Teil. Stell dir nun vor, du wärst Anwalt und müsstest die Argumente der Gegenseite zerpflücken. Du suchst also nach dem Beweis des Gegenteils - und zwar, was deine Gedanken anbelangt. Die Situation hast du ja quasi fotografiert, daran gibt es nichts zu rütteln. Die Gefühle waren, wie wir schon mehrfach ausgeführt haben, ein Ergebnis deiner Gedanken - also setzen wir genau da an. Solltest du unter B mehr als einen Hauptgedanken identifiziert haben, mache bitte die folgende Übung für jeden davon einzeln und hintereinander. Das ist wichtig, um langfristig in deinem Gehirn ein neues, positiveres „Muster“ zu schaffen. Je klarer der Zusammenhang wird, desto einfacher kann dein Gehirn lernen, dass für Situation A auch eine ganz andere Bewertung (unter B) und damit auch ganz andere Gefühle (unter C) gelten können.

 

Stell dir dazu die folgenden beiden Fragen:

 

1. Entspricht der Gedanke wirklich den Tatsachen? Sei hier wirklich bewusst kritisch. War der Abend wirklich ein kompletter Reinfall? War der neue Kollege tatsächlich herablassend? Woran hast du das festgemacht? Antworte hier bitte nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“.

 

2. Hilft dir der Gedanke, dich so zu fühlen und zu verhalten, wie du das möchtest? Auch hier: Nicht einfach mit „Ja“ oder „Nein“ antworten. Sei kritisch und denke vor allem darüber nach, wie du dich eigentlich in der Situation fühlen und verhalten möchtest. Es kann sein, dass du die Situation ganz richtig bewertet hast. Dass du allen Grund hattest, eingeschnappt, wütend, frustriert oder was auch immer zu sein. In dem Fall sei fair mit dir selbst und gestehe dir zu, dass du auch nur ein Mensch bist, und vergib dir deinen Gefühlsausbruch (falls du dich deswegen schlecht fühlen solltest). Es ist jedoch sehr viel wahrscheinlicher, dass deine Gedanken nicht den Tatsachen entsprochen haben und auch nicht hilfreich waren. Wenn dem so ist, dann beantworte bitte die folgende Frage: Wie musst du denken, um dich so zu fühlen und zu verhalten, wie du das möchtest?

 

Schreibe auch diese Gedanken auf. So, als wären es Hausaufgaben oder der Umsetzungsplan für ein wichtiges Projekt. Damit sich aus dieser Übung langfristig eine Veränderung ergibt, ist es wichtig, den automatisch aufkommenden negativen Gedanken die von dir formulierten, positiveren Gedanken so lange konsequent entgegenzustellen, bis die negativen Gedanken tatsächlich nach und nach weniger werden. Das geht nicht über Nacht. Aber dein Gehirn tut, was du ihm sagst. Mit jeder Runde, in der du dich selbst bei alten Denkmustern ertappst, diese dann mental „anhältst“ und auf das neue Programm umschaltest, wird es diese neuen Regeln immer besser beherzigen.

 

Die Übung klingt schwierig und anstrengend, ist es aber nicht. Denn schon durch das Aufschreiben der Situation, der Bewertung UND der Reflexion darüber, ob deine gefühlsmäßige Reaktion richtig oder falsch ist, hast du das bisherige Programm unterbrochen. Du wirst selbst viel schneller auf die Muster aufmerksam werden, bevor sie in endlosen negativen Gedankenschleifen enden.

 

4. Die goldene Liste

 

Das ist eine etwas einfachere Übung, die aber dennoch sehr wirksam ist. Auch hier brauchst du wieder einen Stift und ein Blatt Papier. Teile zuerst das Blatt in zwei Hälften, indem du es faltest oder einfach in der Mitte einen vertikalen Strich ziehst. Auf die linke Seite kommen negative Gedanken, auf die rechte Seite die damit korrespondierenden positiven Gedanken. Damit das aber nicht einfach nur eine Aneinanderreihung von Listen wird, gibt es ein paar Dinge zu beachten. Für jeden negativen Gedanken in der linken Spalte solltest du dir drei (!) positive Gedanken für die rechte Seite überlegen - die zum selben Thema passen.

 

Beispiel: Ich habe vor Jahren sehr darunter gelitten, so weit zur Arbeit pendeln zu müssen. Ich hatte schon schlechte Laune, bevor ich morgens überhaupt im Auto saß. Ich habe damals diese Übung noch nicht gekannt, aber wäre sie mir bekannt gewesen, hätte sie ungefähr so ausgesehen:

 

Links:

 

„Ich kann das nicht mehr, die ganze Pendlerei wird mir einfach zu viel!“

 

Rechts:

  • „Ich kann schauen, ob ich nicht mit Kollegen eine Fahrgemeinschaft gründen kann. Gemeinsam geht vieles leichter.“
  • „Ich kann meinen Chef fragen, ob ich nicht einen Tag in der Woche Home Office machen kann.“
  • „Ich bin eine Stunde pro Richtung unterwegs - da könnte ich doch endlich das Hörbuch laufen lassen, für das ich nie Zeit habe.“

Ein weiteres Beispiel: Als ich zum ersten Mal ein größeres Projekt übernommen habe: Ich war damals für einen Kollegen eingesprungen, der schwer erkrankt war. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich richtig vorzubereiten.

 

Links:

 

„Ich kann das nicht, ich habe nicht genug Erfahrung und werde das Projekt bestimmt an die Wand fahren.“

 

Rechts:

  • „Mein Chef ist dankbar, dass ich eingesprungen bin und hat mir auch gesagt, dass ich jederzeit zu ihm kommen kann, wenn ich Fragen habe.“
  • „Ich darf Fehler machen, das ist menschlich.“
  • „Mein Kollege hat gesagt, dass die Leute im Projekt alle Spezialisten und sehr erfahren sind. Ich kann mich auf ihren Rat verlassen und von ihnen lernen.“

Wird das Prinzip klar? Es geht nicht darum, einfach nur dem Statement links zu widersprechen, sondern wirklich nach positiven Aspekten und Gedanken in der Situation zu suchen. Mindestens drei müssen es schon sein, da unser Gehirn ja wie gesagt negative Gedanken stärker wahrnimmt und eher „glaubt“. Wenn dir mehr einfallen, umso besser. Wichtig ist dabei, auf das Wort „nicht“ oder „kein“ zu verzichten - also die positiven Sätze auch positiv zu formulieren. Auch das ist eine Besonderheit unseres Gehirns. Es filtert die Worte „nicht“ oder „kein“ heraus, nimmt sie nicht wirklich wahr. Wenn ich dir sage, du darfst jetzt auf gar keinen Fall an ein gelb gestreiftes Nilpferd im rosa Badeanzug denken. Was macht dein Gehirn? Genau! Es verarbeitet alles, was ich gesagt habe, außer „nicht“ oder „auf gar keinen Fall“.

 

Ebenfalls wichtig ist, dass die positiven Sätze trotz allem zu dir passen. Dass du sie dir als hilfreich vorstellen könntest. Wenn ich mir in dem Beispiel mit dem Pendeln aufgeschrieben hätte, dass ich mit dem Zug fahren könnte, würde das so gar nicht zu mir passen. Damals zumindest, denn ich war ein fanatischer Autofahrer. Meine Unabhängigkeit war mir zu wichtig, als dass ich mich an einen Zugfahrplan hätte anpassen können. Bleibe dir also trotz allem treu! Du sollst ja nicht deine ganze Persönlichkeit ablegen, sondern nur neue Denkmuster lernen.

 

Als letzten Schritt bewertest du deine positiven Gedanken mit Punkten von null bis zehn (null = überhaupt nicht hilfreich, zehn = extrem hilfreich). Durch die Übung erreichst du, dass dein Gehirn anfängt, mehrere Lösungsoptionen für bestimmte Situationen zu berücksichtigen. Eine möglicherweise über Jahre festgefahrene negative Denkspur wird immer häufiger verlassen. Bis sie irgendwann ganz in Vergessenheit gerät.

 

5. Die magischen vier Fragen beantworten

 

Diese Übung erfordert schon etwas Gespür von dir für deine Gedanken und Gefühle. Wenn du noch ganz am Anfang bist, wäre es besser, mit einer der Schreibübungen anzufangen. Wenn es dir aber schon vergleichsweise leicht fällt, mental einen Schritt zurück zu machen und das ganze Bild zu betrachten, ist der folgende Ansatz sehr hilfreich. Er kann quasi jederzeit und überall eingesetzt werden und dauert auch nicht sehr lange.

 

Die Übung umfasst vier Fragen. Magisch sind sie deswegen, weil du am Ende der vier Fragen feststellen wirst, dass du wie auf magische Weise wesentlich weniger grübelst. Und dich auch deutlich besser fühlen wirst.

 

Los geht’s:

 

1. Frage: Ist dieser Gedanke wirklich wahr?

 

Wenn du wieder einmal am Grübeln bist, dann horche in dich hinein und versuche, den deutlichsten der kreisenden Gedanken zu fangen. Was genau beschäftigt dich? Wenn du ein klares Bild hast, frage dich zunächst, ob der Gedanke für dich wirklich wahr ist. Ganz häufig ertappen wir uns bereits hier dabei, dass wir uns den Kopf über etwas zerbrechen, von dem wir eigentlich wissen, dass es entweder nicht stimmt oder für uns gar nicht relevant wäre.

 

Ein Freund hatte zum Beispiel ein Einschreiben vom Finanzamt bekommen. Er war nicht zu Hause, als der Brief kam, so dass er nur die Benachrichtigung der Post in seinem Briefkasten vorfand. Tagelang machte er sich einen Kopf, was da wohl los war. Eine Rückzahlung war nicht zu erwarten, also musste es sich wohl um eine Steuerschuld handeln. Auf alle Fälle um Kosten, die er sich in der Zeit gerade nicht leisten konnte. Mir war aufgefallen, wie bedrückt er war und ich hatte ihn gefragt. Als er mir den Abholschein zeigte, den er schon seit Tagen mit sich herumtrug, wusste auch ich keine Antwort. Offensichtlich war nur, dass Grübeln das Problem sicherlich nicht lösen würde. In dem Fall würde die Antwort lauten: Der Gedanke ist nur zum Teil wahr. Post vom Finanzamt bedeutet nicht zwangsläufig eine Katastrophe, wenn auch die Wahrscheinlichkeit recht hoch war, dass es um eine Zahlung gehen würde. Aber er hatte seine Steuern alle bezahlt und war auch noch nie einer Nebentätigkeit nachgegangen.

 

Das würde zu Frage 2 führen:

 

Kannst du mit absoluter Sicherheit sagen, dass dieser Gedanke wirklich wahr ist?

 

Durch das Gespräch ermutigt, ging er noch am selben Tag zur Post. Er war ja schließlich in dem Jahr länger krank gewesen, also konnte es sogar sein, dass er eine Rückzahlung bekommen könnte. Das war es zwar auch nicht, sondern lediglich der Bescheid über sein neues Passwort für den Onlinedienst des Finanzamts. Er hatte ganz vergessen, dass er das aus Sicherheitsgründen alle zwei Jahre neu bekam. In dem Fall gab es etwas ganz Konkretes, das er überprüfen konnte. Er lernte daraus, dass nur weil Finanzamt draufsteht, nicht zwangsläufig Steuern dahinterstecken müssen.

 

Es lohnt sich immer, mit diesem zweiten Teil eigene Glaubenssätze zu hinterfragen. Egal, ob man glaubt, dass die beste Freundin wegen einer Bemerkung sauer ist und sich darum schon seit Tagen nicht mehr gemeldet hat. Oder die schlechte Laune des Chefs auf seine eigene Leistung bezieht. Mit der zweiten Frage solltest du dich zwingen, ganz offen dafür zu sein, dass es auch eine ganz andere Erklärung geben könnte. Das reicht schon. Du musst gar nicht nach den tatsächlichen Erklärungen forschen oder sie gar belegen. Einfach nur zu erkennen, dass es für das Problem nicht nur eine einzige „wahre“ Erklärung geben könnte, hilft bereits.

 

Danach kommt Frage 3:

 

Wie reagierst du und wie fühlst du dich, wenn du diesen Gedanken glaubst? Wie behandelst du dich und andere Personen, wenn du diesen Gedanken glaubst?

 

Das klingt jetzt zunächst ein wenig wie ein Schritt zurück. Immerhin hast du bereits festgestellt, dass es tatsächlich andere Erklärungen geben könnte. Aber damit hast du dich innerlich weit genug aus dem Problemkarussell lösen können. Du hast quasi das Notfallprogramm etwas heruntergedreht und die Tür zu logischem Denken wieder ein wenig geöffnet. Nimm den Schritt aber wirklich wahr. Fühle in dich hinein, was der Gedanke in dir an Gefühlen auslöst und wie er dein Verhalten beeinflusst.

 

Im Falle meines Freundes hatte er Angst davor, zur Post zu gehen. Er schlief nächtelang schlecht, war in sich gekehrt, nahm kaum an Gesprächen teil. Er hatte seinen Sohn eigentlich zum Essen einladen wollen, aber aus Angst, dass eine große Steuernachzahlung auf ihn wartete, darauf verzichtet. Und das alles, weil er glaubte, dass hinter dem Brief ein großes Problem steckte, das er alleine nicht würde lösen können.

 

Die emotionale Reaktion auf das Problem und die Auswirkungen auf die Lebensqualität standen in keinem Verhältnis zu dem, was tatsächlich passiert war: Er hatte die Benachrichtigung erhalten, dass ein Einschreiben vom Finanzamt im Postamt auf ihn wartete.

 

Wenn dir die Diskrepanz zwischen dem vermuteten Problem und dessen Auswirkung auf deine Lebensqualität klar geworden ist, wird es Zeit für die nächste Frage.

 

Frage 4: Wer wärst du ohne diesen negativen Gedanken? Wie würdest du dich fühlen?

 

Durch die Reflexionsübungen der vorherigen Fragen hat nun dein logischer Verstand wieder die Oberhand. Du unterliegst nicht mehr dem reinen Flucht- oder Angriffsreflex, sondern kannst dir Alternativen vorstellen. Viele Alternativen. Meinem Freund zum Beispiel wäre in diesem Moment deutlich geworden, dass er ohne den Gedanken einfach am nächsten Morgen zur Post gefahren wäre und den Brief abgeholt hätte. Er hätte gut geschlafen, wäre seinem Sohn gegenüber nicht so einsilbig gewesen. Er hätte sich mutiger und entschlossener gefühlt. Er hätte das Gefühl gehabt, Kontrolle über sein Leben zu haben.

 

Genau darum ist diese Übung wirklich hilfreich. Sie löst zwar nicht jedes Problem, aber sie hilft dir, Denkmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Und je häufiger du das tust, desto leichter wird es dir fallen. Irgendwann zieht das Gedankenkarussell sogar ganz aus, weil du gar nicht mehr damit fahren möchtest. Und weil auch dein Unterbewusstsein verstanden hat, dass du es gar nie musstest.

 

6. Die Umkehrübung

 

Die Übung mit den vier magischen Fragen kann man auch weiterspielen, indem du sie um die sogenannte „Umkehrübung“ erweiterst. Hierfür nimmst du dir einen Satz und findest dafür sogenannte „Umkehrsätze“. Wir haben so etwas ganz früher in der Schule einmal im Deutschunterricht gemacht, um Subjekt, Prädikat und Objekt zu üben. Hier hilft uns diese Übung, durch die Nutzung des rationalen Teils unseres Gehirns den Klammergriff des Notfallsystems zu lockern und wieder über die drei grundlegenden Reflexe (Flucht, Angriff oder Totstellen) hinauszukommen.

 

Wenn du dir also in der Übung vorher Gedanken gemacht hast, warum deine beste Freundin sich schon länger nicht mehr gemeldet und auch die letzten Nachrichten ignoriert hat, wäre dein erster Impuls vermutlich, zu denken, dass sie aus irgendeinem Grund böse auf dich ist. Dann würde der Anfangssatz lauten: „Meine Freundin ist sauer auf mich.“ (mit dem unterschwelligen Selbstvorwurf, dass du etwas falsch gemacht haben musst)

 

Das drehst du jetzt so lange herum, bis dir nichts mehr einfällt:

  • „Ich bin sauer auf meine Freundin“
  • „Ich bin auf mich selbst sauer“
  • „Meine Freundin ist auf sich selbst sauer“
  • „Wir sind alle aufeinander sauer“
  • „Meine Freundin ist auf alle sauer“
  • „Alle sind auf meine Freundin sauer“

Merkst du, was passiert? Zum einen konzentrierst du dich durch die Suche nach weiteren möglichen Kombinationen so sehr auf inhaltliche Dinge, dass die schlechten Emotionen nach und nach verschwinden. Dir fallen so vielleicht sogar ganz andere Möglichkeiten ein, was noch hinter dem Verhalten deiner Freundin stecken könnte. Zum Beispiel, dass es ihr schlecht geht und sie einfach gar niemanden sehen möchte. Oder, dass sie selbst ein schlechtes Gewissen hat wegen etwas, das sie zu dir gesagt hat oder, oder, oder… Und schon hört das Gedankenkarussell aus Furcht, Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen auf, sich zu drehen. Du kannst rational entscheiden, ob du sie einfach anrufst und fragst, was los ist und damit das Thema für euch beide klären.

 

7. Der Reality-Check

 

Manchmal helfen schlichte Gedankenübungen aber nicht mehr weiter. Der quälende Gedanke kommt immer wieder. Im Beispiel vorher mit der Freundin könnte es ja tatsächlich sein, dass du dir nun Sorgen um sie machst. Weil die Stille wirklich ganz und gar ungewöhnlich ist. Sie vielleicht einen Unfall hatte und Hilfe braucht. Schon bist du wieder im Grübelkarussell gefangen. In dem Fall würde es bedeuten, zu ihr hinzufahren, um zu sehen, was los ist - wenn sie zum Beispiel bei deinen Anrufen weiterhin nicht abhebt.

 

Aber eigentlich ist diese Übung dafür gedacht, absolute Glaubenssätze auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen. Jeder von uns hat sie, solche „Nie“- oder „Immer“-Sätze, die ganz tief in uns schlummern und sich immer dann melden, wenn etwas schief gegangen ist. „Nie bekomme ich etwas fertig“ oder „Immer mache ich mich zum Deppen“ oder „Hier werde ich nie einen Mann kennen lernen“. Fehler passieren immer wieder. Jedem von uns unterläuft einmal ein peinliches Versehen und jeder von uns hat Wünsche und Träume, die bisher nicht in Erfüllung gegangen sind. Es ist auch völlig normal, sich deswegen ab und zu Gedanken zu machen. Wenn wir nur träumen, erreichen wir schließlich nichts. Wir müssen auch etwas dafür tun. Problematisch wird es, wenn die Stimme in uns sagt: „Vergiss es, das wird nie etwas“, und wir dann tatsächlich aufgeben.

 

Diese absoluten Ansichten sind Teil des Schwarz-Weiß-Denkens und damit einer ganz besonders hartnäckigen Form negativen Denkens. Das Perfide daran ist, dass sie aufgrund unserer Erfahrungen ja sehr „real“ und „wahr“ wirken, wenn wir schon mit mehreren Versuchen, etwas ganz Bestimmtes zu erreichen, gescheitert sind. Doch auch wenn wir schon 100 missglückte Versuche hinter uns haben: Statistisch und rational gesehen gibt es keinen Grund, der sagt, dass dann der 101. Versuch auch scheitern muss. Eher im Gegenteil.

 

Hier helfen dann einfache Gedankenübungen oft nicht mehr. Der Glaube, dass wir tatsächlich „immer“ der Depp sind oder „nie“ einen Mann kennen lernen werden, sitzt sehr, sehr tief. Und hier kommt der „Reality-Check“ ins Spiel.

 

Keine Angst. Jetzt brauchst du nicht gleich einer Selbsthilfegruppe für Singles beizutreten, wenn du alleine bist und das gerne ändern würdest. Aber nimm dir tatsächlich vor, aktiv an dem Zustand etwas zu ändern. Was hast du bisher unternommen, um jemanden kennen zu lernen? Überlege dir andere Möglichkeiten und setze sie um. Besuche einen Single-Kochkurs. Mache einen Städtetrip für Singles. Geh in Vernissagen oder zu einem Musikfestival. Nimm all deinen Mut zusammen und rede fremde Männer (oder Frauen, je nachdem, wen du suchst) einfach an. Finde Themen, die es dir leichter machen, mit anderen ins Gespräch zu kommen.

 

Denke daran: Bei der Übung geht es nicht darum, tatsächlich sofort den Mann oder die Frau fürs Leben zu treffen, sondern einen tief liegenden Glaubenssatz aufzulösen. Du wirst auf alle Fälle Spaß haben, etwas Neues lernen und definitiv Kontakte knüpfen. Wer weiß, vielleicht ergibt sich daraus tatsächlich mehr.

 

Aber selbst wenn das nicht der Fall ist. Wichtig ist hier nur, dass du erlebst, dass die Wirklichkeit anders ist, als deine Gedanken dir suggerieren. Dass ein Fehlversuch, oder auch ein Dutzend, nicht „lebenslänglich“ bedeuten. Sondern, dass schon der nächste Versuch das große Glück bringen kann. Lass dich nicht abschrecken, wenn es im ersten Moment nach zu viel Aufwand klingt. Verbinde es einfach mit etwas, das du sowieso tun wolltest. Du wirst auf alle Fälle belohnt werden. Denn hier kommen gleich ein paar Mechanismen zum Tragen, die negativem Denken entgegenwirken: Du überlegst dir Möglichkeiten, die du bisher noch nicht berücksichtigt hattest - das spricht den rationalen Teil deines Gehirns an und löst die Grübelschleifen auf. Du triffst erfolgreich Entscheidungen: In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass sich schon durch wenige, bewusst getroffene Entscheidungen eine depressive Verstimmung auflösen lässt. Du wirst körperlich aktiv.

 

Eine der besten Möglichkeiten, negatives Denken zu stoppen, ist tatsächlich, dich zu bewegen. Dazu reicht schon ein kurzer Spaziergang um den Block. Oder eben die Fahrt zum Weinfest im Nachbarort. Wichtig ist, dass du es nicht komplizierter machst als nötig. Suche dir Möglichkeiten, die du möglichst schnell in Angriff nehmen kannst. Sonst läufst du Gefahr, auch darüber wieder ins Grübeln zu verfallen.

 

8. Negative Glaubenssätze in positive Affirmationen umwandeln

 

Das klingt zunächst etwas esoterisch und ja, hier muss man auch ein wenig aufpassen: Sich einfach einzureden, dass die Welt ja eigentlich ganz sonnig und großartig ist, funktioniert nur bedingt, wenn man gerade tief im Jammertal der negativen Gedanken steckt. Aber wenn du ein paar Regeln beachtest, ist das tatsächlich eine großartige Übung, die sich sehr positiv auf dein Wohlbefinden und deine Stimmung auswirken wird.

 

Vertraue mir. Affirmationen sind zunächst mal nichts anderes als die Glaubenssätze, die dein Unterbewusstsein sowieso dauernd herunterbetet. Nur mit dem Unterschied, dass diese unbewussten Glaubenssätze aus den vielen, bisher schon erörterten Gründen, eher negativ und auf die Vermeidung von Gefahr ausgelegt sind. Wenn nun also solche negativen Glaubenssätze dazu führen, dass wir Ängste entwickeln und sogar krank werden, müsste es doch gut für uns sein, wenn wir diese durch positive Glaubenssätze ersetzen, oder?

 

Bis vor kurzem waren derlei Überlegungen nur auf ausgesprochen esoterischen Seiten zu finden. Inzwischen gibt es wissenschaftliche Studien, die nachweisen, dass doch einiges an Wahrheit dahintersteckt. Neu ist der Ansatz allerdings nicht. Schon Buddha sagte vor rund 2500 Jahren sinngemäß: Alles, was wir jetzt sind, ist das Resultat der Gedanken. Und auch die Stoiker des Altertums (zum Beispiel Seneca der Jüngere) formulierten es ähnlich. Auch sie plädierten in ihren Schriften dafür, achtsam mit den Gedanken umzugehen. Auf eine optimistische, dem Leben zugewandte Einstellung zu achten.

 

Und genau das steckt hinter dieser Übung: Achte zunächst auf deine bestehenden, negativen Glaubenssätze und formuliere dann eine oder mehrere, die den Sachverhalt positiv darstellen. Es ist nämlich wichtig, dass die Affirmationen zu dir und deiner Situation passen, damit sie wirklich funktionieren. Wenn du also glaubst, nie dein Diät-Ziel erreichen zu können, niemals einen Halbmarathon zu schaffen oder die nächste Prüfung nicht zu schaffen, schreib diese negativen Affirmationen auf. Gut wäre es, wenn du dich zunächst auf maximal zwei beschränkst. Und zwar die, die dich am meisten stressen. Das könnte dann so aussehen: Mein Chef hat mich auf dem Kieker. Er kommentiert alles, was ich mache, ausgesprochen kritisch. Ich bin sicher, ich werde über kurz oder lang meinen Job verlieren.

 

Jetzt denk darüber nach, welche Angst wirklich dahintersteckt. Erinnerst du dich? Unser Unterbewusstsein schickt uns diese Gedanken nicht, um uns unglücklich zu machen, sondern um uns vor Gefahren zu schützen. Also was genau ist deine Befürchtung? Wovor möchte dein Unterbewusstsein dich bewahren? Ist es tatsächlich Arbeitslosigkeit? Geht es um genau diese Stelle, an der du sehr hängst, weil es eigentlich dein Traumjob ist und du auch deine Kollegen gerne magst? Fühlst du dich schlecht, weil du selbst mit deiner Arbeit nicht zufrieden bist und glaubst, dein Chef sieht es genauso?

 

Je nachdem, was da in dir drin vor sich geht, könntest du nun eine positive Affirmation formulieren:

 

 

Es geht also darum, immer die wirklichen Ängste anzusprechen, die hinter den negativen Gedanken stehen, und dann so zu formulieren, als wären sie bereits gelöst.

 

Dabei gibt es drei Dinge zu beachten:

  1. Bleibe immer in der Gegenwartsform (ich bin / mache / kann…)
  2. Formuliere sie immer positiv, also ohne „nicht“, „kein“ und so weiter - aus den bereits erwähnten Gründen. „Ich bin nicht arbeitslos“ filtert das Unterbewusstsein zu „Ich bin arbeitslos“. Und das bleibt negativ und macht Angst.
  3. Es muss zu deiner aktuellen Situation und Persönlichkeit passen. Wenn du immer schon ein absoluter Sportmuffel warst, wird „Ich bin fit und sportlich“ nicht funktionieren. In dem Fall könntest du es mit „Ich achte auf meine Gesundheit“ in Kombination mit „Ich liebe es, lange Spaziergänge durch den Wald zu machen“ versuchen.

Und noch etwas: Auch, wenn an schlechten Tagen viele negative Gedanken in deinem Kopf herumkreisen, konzentriere dich bei den positiven Affirmationen wirklich nur auf ein oder zwei am Anfang. Arbeite dann täglich mit ihnen. Schreibe sie jeden Morgen in dein Tagebuch. Oder sage sie laut auf. Das kannst du vor dem Spiegel machen und dir dabei selbst in die Augen schauen. Nehme sie auf und spiele sie mindestens einmal am Tag ab. Ganz egal, was du tust, es sollte regelmäßig sein, mindestens einmal täglich. Und du wirst merken, nach und nach verschwinden die entsprechenden negativen Gedanken aus dem Grübelkarussel und du kannst die nächste Affirmation in Angriff nehmen.

 

9. Handbuch der Selbstzerstörung

 

Das ist eine meiner liebsten Methoden. Die Übung bedient sich des Prinzips der umgekehrten Logik. Anstatt den negativen Gedanken einfach nur positive entgegenzusetzen, übertreibt man zunächst die negativen Gedanken und Befürchtungen maßlos.

 

Und das geht so: Such dir einen negativen Gedanken, der dich einfach nicht in Ruhe lassen möchte und schreib ihn auf. Das könnte - wieder - sein: „Mein Chef ist sauer auf mich, ich bekomme mit Sicherheit Ärger. Vielleicht droht mir sogar die Kündigung.“ Formuliere das um in: „Was muss ich tun, damit mein Chef mich tatsächlich mit sofortiger Wirkung entlässt?“ Und dann schreibe auf, was dir in den Kopf kommt, ohne zu zensieren. Alles ist erlaubt und alles ist richtig. Versuche wirklich, eine ganze DinA4-Seite zu füllen.

 

Glaube mir, das ist möglich. Am Anfang werden dir ganz allgemeine Dinge einfallen wie:

  • „Ich schicke meine Berichte nicht mehr fristgerecht ein.“
  • Oder „Ich grüße ihn einfach nicht mehr.“
  • Oder „Ich beantworte keine seiner Mails mehr.“

Aber bald schon kommst du zu:

  • „Ich mache spontan Urlaub auf den Bahamas und schicke ihm eine Postkarte.“
  • Oder „Ich stalke ihn im Intranet und hinterlasse böse Kommentare zu seinen Beiträgen.“
  • Oder „Ich melde ihn bei allen Vereinen in seinem Heimatort an.“

Es ist zunächst nicht wichtig, wie realistisch die Aktionen sind. Wie bei einigen anderen Methoden auch schaltet sich durch die kreative Suche nach Gemeinheiten, die dich in Schwierigkeiten bringen könnten, der logische, rationale Teil deines Gehirns wieder ein. Und der wird schließlich für eine echte Lösungsfindung gebraucht. Zudem ist es eine kreative Form, Dampf abzulassen. Und völlig harmlos noch dazu (so lange du sicherstellst, dass er die Liste nie zu sehen bekommt).

 

Wenn du fertig bist, lies deine Liste durch. Es werden dir einige Aktionen auffallen, die realistischer als die anderen sind und möglicherweise auch etwas mit deinen gegenwärtigen Schwierigkeiten zu tun haben, auf die du aber nicht direkt gekommen wärst. Schreibe diese auf ein extra Blatt Papier, links, in eine Spalte untereinander. Rechts daneben schreibst du dann jeweils, was du stattdessen tun solltest, damit genau die Katastrophe nicht passiert.

 

Hier ist nun etwas Kreativität gefragt - denn es reicht nicht, die „Sabotage-Aktionen“ aus der linken Spalte positiv zu formulieren oder einfach ein „nicht“ davor zu setzen. Such dir wirklich eine positive Aktion, die die negative Aktion unmöglich machen oder aufheben würde.

 

Ich habe einmal folgendes Beispiel genommen, um die Methode Klienten zu erläutern: „Was muss ich tun, damit meine Frau sofort die Scheidung einreicht?“ Natürlich kamen gleich die Klassiker wie „fremdgehen“ , „jeden Abend zu spät nach Hause kommen“ oder „einen Knutschfleck am Hals mit nach Hause bringen“. Doch recht schnell ging es in Richtung von „sie immer nach kreativen Geburtstagsgeschenken für Freunde fragen, ihr selbst aber immer nur Seife schenken“ oder „sie immer mit meiner Mutter allein lassen, wenn diese zu Besuch kommt“.

 

Wir haben bei der Übung viel gelacht, aber einer meiner Klienten in der Gruppe wurde immer stiller. Ein paar Wochen später traf ich seine Frau, die meinte, was ich denn mit ihrem Mann angestellt hätte. Sie wusste ja, was sie an ihm hatte und hätte es schon lange aufgegeben, auf Romantik zu hoffen, aber auf einmal wäre er wie ausgewechselt…

 

Offenbar hat er sich „ertappt“ gefühlt. Und genau danach suchen wir in dieser Übung: Nach Punkten, bei denen du dich selbst „ertappt“ fühlst, weil das Dinge sein könnten, die wirklich hinter dem aktuellen Problem stecken. Und dann positive Aktionen stattdessen ausdenken. Die Lösung für die Schwiegermutter war in meiner Gruppe übrigens: Den beiden Damen einen Tag im Spa zu schenken und sie abends schön zum Essen auszuführen. Beim Chef überlasse ich es deiner eigenen Kreativität.

 

10. Stopp-Technik

 

Ganz zum Schluss kommt jetzt noch eine etwas einfachere Übung, die aber nicht unterschätzt werden sollte: Die Stopp-Technik.

 

Hierbei geht es nicht darum, negative Gedanken einfach zu „stoppen“. Das funktioniert nicht, wie ich ja bereits mehrfach ausgeführt habe. Aber mit einem Stoppschild hat es dennoch etwas zu tun. Suche dir im Internet dazu das Bild eines ganz normalen Stoppschilds aus dem Straßenverkehr. Drucke es fünfmal aus (oder zeichne selbst welche, wenn du so kreativ bist). Die Bilder/Ausdrucke müssen nicht sehr groß sein - DinA6 reicht völlig aus (eine Viertelseite also). Befestige die Bilder nun an Stellen im Haus, an denen du häufiger vorbeikommst. Aber nicht unbedingt dort, wo du immer bist.

 

Immer dann, wenn du nun an dem „Stoppschild“ vorbeikommst, überprüfe, woran du gerade denkst. Wenn es negative Grübeleien sind, kannst du sie so „anhalten“. Darum sollten die Orte für die Schilder auch so gewählt sein, dass du nicht permanent daran vorbei gehst. Das würde mit der Zeit ganz schön nervig und anstrengend werden. Aber sie sollten auch nicht an einem Ort sein, an dem du nur alle paar Monate vorbeikommst. Experimentiere gerne ein wenig herum und wechsele die Orte auch immer mal wieder.

 

Wozu soll das gut sein?

 

Diese einfach wirkende Übung kommt ganz bewusst zum Schluss. Es funktioniert nicht, negative Gedanken nur zu unterdrücken. Im Gegenteil, der Schuss könnte nach hinten losgehen und die Grübeleien noch hartnäckiger werden. Die Methode hilft jedoch, bestimmten Mustern auf die Spur zu kommen. Und diese dann mit den vorher genannten Methoden nach und nach aufzulösen. Da du dich mit dieser Methode sozusagen selbst überrumpelst, kommst du damit sogar versteckten, tief in deinem Unterbewusstsein herumschwirrenden Denkmustern und Glaubenssätzen auf die Spur.

 

 

Foto von Simeon Jacobson auf Unsplash

Kommentar schreiben

Kommentare: 0