Ohne Grenzen geht es nicht!

 

Mein Klient M. wuchs als kleiner Junge in einem mütterlichen Paradies auf. Seine ihn sehr liebende und fürsorgliche Mutter erklärte ihm schon früh die Welt und war ganz für ihn da. Von Anfang an hatten beide eine sehr enge und exklusive Bindung; der Vater tauchte nur gelegentlich auf und seine Beziehungen zur Mutter seines Kindes beschränkten sich auf – wenn auch sehr häufige – sexuelle Kontakte. Seine eigenen Kontakte zu seinem Sohn blieben sporadisch, sprunghaft und nur von kurzer Zeitdauer. Eine Triangulierung (Lösung der Mutter – Kind Symbiose durch den Vater) fand nicht statt. 

M. blieb für die Mutter DER Bezugspunkt zum Leben. Mit wachsender Selbstständigkeit entwickelte M. aber auch Interessen für außerhäusliche Dinge und versuchte sich in der Schule gut einzubringen. Aufgrund der extrem eingeschränkten frühkindlichen sozialen Kontakte verfügte er nur bedingt über soziale Kompetenz und erfuhr die Schule als einen Ort, an dem weder sein kindlicher Narzissmus noch der Glaube an die Exklusivität und Besonderheit der eigenen Person gestärkt wurden. 

 

Mit sieben Jahren erlebte er den Zusammenbruch seines häuslichen Paradieses: Seine Mutter verfiel zusehends in eine schwere Depression, die die kommenden Jahrzehnte in unterschiedlicher Ausprägung bestehen blieb. Durch diesen krankheitsbedingten Rückzug und der Tatsache, dass der Vater hier keinesfalls einsprang, sondern weiterhin wirkungs- und bedeutungslos im Leben des Jungen agierte, erlebte der junge M. ein schweres Trauma, das zu der bereits bestehenden inzestuösen Symbiose mit der Mutter hinzutrat. Das Ergebnis war eine lebenslange Fixierung auf Frauen, denen er in ausgemachter Bedürftigkeit begegnete. Aus lauter Angst, eine Frau zu verlieren, tat er „alles für sie“. Nur dieses Tun hatte seinen Preis: Im Gegenzug erwartete er bedingungslose (mütterliche) Liebe und Hingabe und die Stärkung seines sehr schwachen Inneren Kindes, das in Verbindung mit einem nicht realisierten Erwachsenen und in Ablehnung der Übernahme der Verantwortlichkeit für sein Leben alleine überhaupt nicht klar kam. Grenzen der Partnerinnen brachten ihn in innerlich tiefe Verzweiflung, auf die er regelmäßig mit sich verstärkenden Wutausbrüchen reagierte. Brach die Partnerin ihre exklusive Zuwendung auch nur teilweise ab suchte M. sich sofort die nächste weibliche Bezugsperson, die seinen (tatsächlich unersättlichen) Liebeshunger stillen sollte. Auch diese reagierte natürlich relativ schnell mit deutlicher Überforderung und die Reaktion Ms. war erneut von manipulativen Versuchen, Wutausbrüchen und schweren Vorwürfen an die neue Partnerin gekennzeichnet. 

 

Im obigen Beispiel wird deutlich, warum in schweren Fällen Grenzen weder für sich selbst noch für andere akzeptiert werden können. Ganz im Gegenteil versucht unser Klient M. Grenzen bei seinen Partnerinnen ganz aufzulösen; sich selbst gesteht er erst gar keine zu, sondern wird „grenzen-los“ aktiv für seine Frauen, denen er ja „alles gibt – alles können sie von mir haben!“. Daraus leitet er die Berechtigung ab, dass die Partnerin für ihn stets da ist und alle seine Bedürfnisse erfüllt. Nur wird dadurch jede Frau heillos überfordert, wenn sie auch aufgrund ihrer Erfahrungen anfangs durchaus von dieser Haltung profitiert: Endlich ist da jemand, der alles für mich tut! Jemand, dem ich alles bedeute, jemand, der meiner Hilfe braucht, ein kleiner Junge in dem Körper eines erwachsenen Mannes (was bei vielen Frauen tatsächlich auch Mutterinstinkte weckt), der ja auch so intelligent ist und von sich (scheinbar) überzeugt! Es entsteht also eine symbiotische Beziehung, in der zwei wahrhaft Hilflose sich im Tanz der Schatten- und Sonnenkinder vereinen, ohne dass es eine regulierende und notfalls auch kontrollierende erwachsene Instanz / Person in einem oder beiden gäbe. Denn: Auch unser Schattenkind braucht einen Erwachsenen, bei dem es sich geborgen, verstanden und sicher gehalten fühlt. Von dem es Grenzen gesetzt bekommt, nachdem alles an Verständnis und Liebe von Seiten der erwachsenen Person geflossen ist, damit es ganz entspannen kann. 

 

Wie sieht das aber bei „normalen“ Paaren aus? Gibt es da Grenzen und werden diese gewahrt? Was bedeuten Grenzen eigentlich und warum sind sie für die Liebe in der Partnerschaft so wichtig?

 

Zunächst einmal sind Grenzen ein wichtiger Aus-druck der Selbstliebe. Indem ich überhaupt Grenzen definiere für mich sage ich aus, dass ich mir wertvoll genug bin! Dass meine Gefühle und Bedürfnisse WICHTIG sind. Sie sind auch nicht vergleichbar mit den Gefühlen und Bedürfnissen an-derer Leute: Meine Gefühle und Bedürfnisse sind singulär, gehören mir und ich nehme sie so ernst, dass ich sie auch nicht beurteile und bewerte! Sie sind so wie sie sind und genau so sind sie meines Schutzes und meines Gewahrseins würdig. Respekt vor ihnen – und damit vor mir selbst – fordere ich aktiv ein. Dafür bin auch nur ich zuständig, das ist Chefsache. Denn: Niemand außer mir selbst kann dauerhaft und wirkungsvoll meine Grenzen schützen. 

 

Unsere Grenze ist unser persönliches Hoheitsgebiet. Wir allein bestimmen innerhalb dieses Hoheitsgebiets, was erlaubtes oder nicht erlaubtes Verhalten ist. Sobald jemand unsere Grenzen verbal oder nonverbal überschreitet, merken und fühlen wir das sehr direkt und deutlich. Weil wir dann unangenehm berührt sind, uns ärgern oder einfach nur in Stress geraten. Dabei hat jeder von uns andere Grenzen. Mir persönlich ist es extrem unangenehm, wenn ich angeschrien werde. Für andere ist das okay und sie reagieren verständnis-voll oder entspannt. Ich dulde das nicht, mache das sofort deutlich und ergreife entsprechende Maßnahmen. Und zwar ganz unabhängig davon, WER mich da anschreit! Auch wenn es der Vorstandsvorsitzende eines Großkunden ist, von dem (scheinbar) mein geschäftlicher Erfolg abhängt – ich lasse nicht zu, dass er schreiend mit mir kommuniziert. Welchen (guten oder weniger guten) Grund er auch hat – ich ergreife geeignete und gegebenenfalls auch eskalierende Maßnahmen zur Beendigung der für mich unangenehmen Situation. 

Unsere Grenzen haben übrigens dabei nicht zwingend etwas mit der Unterscheidung zwischen sensibel und weniger sensibel zu tun. Sensible Menschen haben zwar meist engere Grenzen, die leichter zu verletzen oder zu überschreiten sind. Aber auch die meisten weniger sensiblen Menschen haben ihre wunden Punkte, an denen man schnell zum Grenzüberschreiter wird, ohne es böse zu meinen, ja oft sogar, ohne es zu merken. Denn jeder von uns hat seine eigenen ganz speziellen Grenzen und zwei Menschen haben selten die gleichen. Weil wir hier alle anders sind, kommt es auch häufig vor, dass wir versehentlich einen Schritt über die Grenze eines anderen Menschen tun. Oft passiert das, ohne dass wir es beabsichtigen, und sogar, ohne dass wir es bemerken.

 

Kurz: Wir überschreiten ständig Grenzen von Menschen! Dass wir gegenseitig unsere Grenzen überschreiten, ist relativ normal und meistens ei-nigermaßen problemlos. Kleinere Überschreitungen können die meisten von uns gut wegstecken. Das ist es, was Toleranz ausmacht. Ich nehme eine kleinere Unbill auf mich, ohne etwas zu sagen. Wenn wir beim kleinsten Ungemach immer gleich reagieren würden, kämen wir ja aus dem Jammern nicht mehr heraus. Und wir wären sehr anstrengend für unsere Umwelt! Aber es kommt irgend-wann der Punkt, da müssen wir etwas sagen. Zum Beispiel, wenn sich die Grenzüberschreitungen häufen. Oder wenn jemand mit großen Schritten einfach über unsere Grenzpfeiler hinwegsteigt. Wir merken das, indem wir sensibel auf unseren inneren Stresslevel aufpassen. Dazu ist Achtsamkeit wichtig und Nähe zu unserem „inneren Team“, den Inneren Kindern und Schutzinstanzen: Ich weiß, was mir guttut und was nicht, und mache da regelmäßig ein Update, denn das kann sich täglich, ja manchmal stündlich ändern! Dazu brauche ich täglich Zeit mit mir selbst in der Natur, der Meditation, dem inneren Gewahrsein. 

 

Was ist, wenn wir unsere Grenzen nicht verteidigen?

 

Grenzen setzen und Grenzen verteidigen wir nicht nur aus Eigeninteresse, sondern auch, damit die Menschen um uns herum wissen, wen sie vor sich haben. Damit wir für sie sichtbar werden! In amerikanischen Unternehmen gibt es dafür den Begriff der Visibility und er ist ein Kennzeichen für den Erfolg eines Mitarbeiters. Menschen mit starken und gesunden Grenzen sind eine sehr angenehme Gesellschaft und als Mitarbeiter geschätzt, weil wir bei ihnen wissen, woran wir sind. Gesunde Grenzen machen uns stark und Stärke ist nun mal sehr attraktiv.

 

Nun gibt es aber auch viele Menschen, die nicht besonders gut darin sind, für sich selbst, die eigenen Bedürfnisse und Werte einzustehen. Natürlich haben diese Menschen auch ihre Grenzen. Aber während ein guter Grenzzaun bildlich gesprochen so um die 3 Meter hoch sein sollte, ist ihr Zaun nur 30 cm hoch, so dass jeder ungestraft darüber hinwegsteigen kann. Mit diesen Menschen kann man im Prinzip alles machen. Zum Beispiel kann man, ohne große Konsequenzen befürchten zu müssen, unhöflich sein, man kann sie auflaufen lassen, man kann sie ausnutzen, man kann sie emotional unter Druck setzen und zu Dingen bewegen, die sie nicht möchten. Mit einer zu schwachen persönlichen Grenze ist man anderen Menschen schutzlos ausgeliefert. Deswegen ist es wichtig, die eigene Grenze zu kennen und sie stark zu halten.

 

Wie bekommt man den eigenen Grenzzaun denn auf eine angemessene Höhe? 

 

Die eigenen Grenzen bewusst machen: Wenn du deine Grenzen stärken möchtest, dann musst du dir erst einmal erlauben, überhaupt eine Grenze zu haben und diese auch zu schützen. Und die Voraussetzung dafür ist wiederum, die eigene Grenze genau zu kennen. Sonst passiert es schnell, dass man, ohne es zu merken, überrannt wird und dann erst im Nachhinein merkt, dass jemand unerlaubt in das eigene Hoheitsgebiet eingedrungen ist. In den nachfolgenden Übungen kannst Du Dir Deine Grenzen so richtig bewusst machen und aktiv mit ihnen arbeiten. Du kannst Deinen Angst-raum (von manchen meiner Meinung nach verharmlosend Komfortzone genannt) langsam aber sicher ausdehnen und sukzessive Schritt für Schritt – und erlaube Dir durchaus auch Schrittchen, Hauptsache ist, dass Du Dich überhaupt bewegst! – verlassen. Daraus erwächst Dir Mut: Der Mut, immer mehr Du selbst zu sein, Deine eigene Wahrheit zu leben und den anderen zu zeigen. So verhilft Dir die Arbeit mit Deinen Grenzen zu einem starken SELBST: Zu SELBSTwertgefühl, zu SELBSTbewusstsein, zu SELBSTachtung, zu SELBSTliebe und zu andauernder SELBSTstärkung! 

 

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