Warum eigentlich ein ICH, wenn wir doch ein WIR werden (wollen)?

 

Ein Paar lernte sich auf einer Gebirgswanderung kennen. Er war ein totaler Wanderenthusiast und schon als kleiner Junge mit seinem Vater in den Bergen unterwegs. Sie begleitete an diesem Tag einen Cousin, der sich gerne gelegentlich wanderte und hatte ganz einfach nichts anderes vor. Jedenfalls war es bei den beiden fast Liebe auf den ersten Blick, als sie sich während einer Pause auf einer Almhütte kennenlernten – ihr gefiel seine jungenhafte Begeisterung, sein Temperament und seine Leidenschaft für die Berge und generell die Natur. Ihm gefiel diese reizende, sehr weibliche und offene Frau, die scheinbar sportlich war und auch noch die Leidenschaft für die Bergwelt der Alpen mit ihm ganz offensichtlich teilte.  

 

Die beiden wurden recht schnell ein Paar und schon ein Jahr später läuteten die Hochzeitsglocken. Jeden Samstag, manchmal auch das ganze Wochenende, verbrachten sie in den Bergen und das wurde ihre feste Tradition. War es doch ihr gemeinsames Hobby und die Welt, in der sie sich das erste Mal gesehen hatten und sich Hals über Kopf ineinander verliebten! Andere Hobbies entwickelten sich aus Zeit- und Kostengründen erst gar nicht und so hatten sie ein verbindendes Thema, das sie als Paar wie es schien ausmachte.

 

Unser Pärchen hatte recht wenig offen ausgetragene Konflikte, weil sie beide aus Kindheiten kamen, die – sagen wir es vorsichtig – nicht ganz optimal verlaufen waren. So vermieden sie Streit und wenn es dann doch mal krachte empfanden beide die Auseinandersetzung als extrem belastend. Mit der Zeit wurden Themen immer weniger offen angesprochen und kritische Punkte definitiv vermieden. Bis es eines Tages auch irgendeiner „Nichtigkeit“ heraus dann doch mal krachte. Und sie, die immer so belastbar, konfliktscheu und zurückhaltend in ihrem Verhalten war, packte so richtig aus! Alle gemeinsamen Themen kamen zur Sprache, vom Hausputz über die Ordnung und den Mülleimer bis – ja, bis zur Wanderleidenschaft und ihren allwöchentlichen Exkursionen. Es stellte sich nun heraus, dass sie einen regelrechten Horror vor ihren gemeinsamen Samstagen hatte. Sie konnte diese „Herumgerenne“, wie sie es nannte, nicht mehr ertragen. Es war ihr schlicht viel zu viel geworden und sie sehnte sich nach einem anderen gemeinsamen Hobby oder sogar nach getrennten Hobbies, denen jeder für sich alleine nachging.

 

Der Mann war schrecklich vor den Kopf gestoßen. Hatte er doch all die Jahre geglaubt, dass er seine Frau genauso wie sich selbst mit dem gemeinsamen Hobby glücklich machen würde! Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie nach dem ersten gemeinsamen Jahr nicht mehr mit ganz so viel Enthusiasmus bei der Sache war wie davor. Er hatte sich das auch nicht zu erklären gewusst und hatte verschiedentlich seine Frau gefragt, ob es ihr denn auch noch gefalle oder ob sie lieber mal in ein neues Wandergebiet aufbrechen sollten. Sie hatte immer abgewunken und sich nicht getraut, das Thema offen und klar anzusprechen. Und jetzt war es heraus und er sah schon ihre ganze Ehe den Bach hinuntergehen! Hatte sie ihn doch über Jahre über ihre wahren Wünsche im Unklaren gelassen und war ihm gegenüber im Laufe der Zeit immer zurückhaltender geworden, teilweise sogar regelrecht abweisend begegnet.

 

Eigentlich war hier etwas ganz Positives passiert! Endlich kamen Wünsche und Bedürfnisse der Frau klar auf den Tisch und boten damit auch ihm, dem Mann, die Gelegenheit, seine Frau richtig und tiefer kennen zu lernen. Auch ihrer Ehe bot sich damit eine fantastische Chance: Ein gemeinsames WIR zu entwickeln mit wirklich gemeinsamen Hobbies bei gleichzeitigem Herausarbeiten der individuellen Interessen. Aber zunächst fühlten sich unsere beiden wie in einem gigantischen Strudel: Alles in ihrer bisherigen Ehe wurde auseinander gewürfelt und beide reagierten zutiefst verunsichert und fingen an, einander aus dem Weg zu gehen.

 

Schließlich stellten sie fest, dass sie in ihrer ersten größeren Ehekrise angekommen waren und suchten einen Paarberater auf. Davon berichtet David Schnarch, einer der wichtigsten amerikanischen Paartherapeuten. Er war es auch, der den Begriff der Differenzierung prägte, der sinngemäß aussagt, dass es für ein Paar wesentlich ist, die eigene Identität in einer Partnerschaft zu wahren und stetig auszubauen. Die Bildung eines WIRs sei in der Regel kein Problem, aber dafür würde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sprich, das ICH würde zugunsten der neuen entstehenden Paaridentität aufgegeben. Mit fatalen Folgen, denn: Mit der Aufgabe des ICHs wird der Mensch in den Bereichen Selbstwert, Selbstbewusstsein und Wahrnehmung seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse schwächer und entwickelt zudem einen regelrechten Groll auf den Partner, der ja scheinbar der Verantwortliche für die Selbstaufgabe ist. Der Groll kann sich bis zur Wut steigern und kann oft in der Trennungsphase von Paaren beobachtet werden, wenn an dem verlassenen oder verlassenden Partner kein einziges gutes Haar mehr gelassen wird. So erscheint der früher geliebte Mensch plötzlich als durch und durch negativ und als vernichtend für das eigene Leben und die eigene Entwicklung.

 

Kehren wir zurück zu unserem Ehepaar. Mittlerweile hatten sie in der Paartherapie, die sie eifrig und regelmäßig besuchten, verstanden, dass keiner dem anderen etwas Böses wollte oder ihm gar etwas wegzunehmen beabsichtigte. Sie begannen, die Chance der Situation zu sehen und zu verstehen. Und nach dem ersten Verstehen und Neu-Bedenken (Refraiming) war das gar nicht so schwierig! Der Ehemann begann, jeden zweiten Samstag allein oder mit seinen Freunden wandern zu gehen und einmal alle zwei Monate kam seine Frau sogar mit. Jetzt gerne und tatsächlich wieder ein Stück weit begeistert – sogar eigene Routenvorschläge begann sie zu unterbreiten. Parallel entwickelten sie gemeinsame neue Hobbies und ließen sich dabei auf für beide neue Erfahrungen ein: Sie buchten einen Tanzkurs für Paare und lernten Standardtanz. Zusätzlich schrieb sich die Frau an einem öffentlichen Institut ein und lernte für sich allein die Kunst des folkloristischen Nähens.

 

Versuchen wir noch einmal uns den Prozess von oben und außen anzuschauen.

 

Ein Paar verliebt sich und baut eine Beziehung auf. Der Fokus liegt dabei – gerade in der Verliebtheitsphase – deutlich auf dem WIR, dem entdecken des anderen, dem Wunsch, möglichst viel Zeit mit dem anderen zu verbringen und (fast) alles mit ihm oder ihr zu teilen. Unmittelbar anschließend an die Verliebtheitsphase tritt eine Konsolidierungsphase ein: Erste Meinungsverschiedenheiten tauchen auf, Regeln und Standards werden gebildet und abhängig von den jeweiligen Kindheitserfahrungen der beiden Partner etabliert sich eine (Un-)Streitkultur. Das WIR wird verfestigt, was einerseits dem Miteinander im Alltag und später der Familie dient, andererseits aber auch eine gewisse Inflexibilität mit sich bringt. Die jeweiligen ICHs – in der Verliebtheitsphase noch als bezaubernd, neu und attraktiv wahrgenommen – werden jetzt oftmals als problematisch und nicht der Paarharmonie dienend wahrgenommen. Kurz, sie werden abgeschliffen und – wenn überhaupt noch – nur rudimentär gelebt, oft auch in den Resten nicht mehr freudvoll.

 

Wie sieht nun die Lösung aus? Wollen wir hier statt einem Paar die Wohngemeinschaft zweier EGOs haben?

 

 

Werfen wir einen Blick zurück auf unser Wanderpärchen. Nach ihrer so notwendigen und wichtigen Krise haben sie BEIDES getan: Das WIR gelebt und nach neuen Formen gesucht und gleichzeitig das ICH kultiviert und am Leben gelassen! Und genau das ist Differenzierung: Zwei lebendige und kultivierte ICHs gestalten gemeinsam und individuell ein WIR aus ihrer Schöpferkraft heraus, das heißt aktiv und kreativ. Dabei spielen geteilte Information und der ständige lebendige und offene Austausch eine entscheidende Rolle: Der Partner darf und in diesem Fall MUSS er regelrecht Informationen über meine Bedürfnisse und Wünsche erhalten und auch erfahren, wenn ich etwas NICHT mag! Ohne diesen Austausch funktioniert Differenzierung nicht und ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass eine langfristige erfüllende und glückliche Partnerschaft ohne dieses Geschenk an den Partner (wir erinnern uns: „Bedürfnisse sind Geschenke an den Partner“) unmöglich ist. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0